Freiheit für Geimpfte?
Wie lang kann Geimpften noch die Freiheit verwehrt werden? Die SN fragten bei einem Verfassungsjuristen und bei einer Bioethikerin nach. Ihre Antworten fallen eindeutig aus.
Peter Bußjäger ist Verfassungs- und Verwaltungsjurist. Er lehrt an der Universität Innsbruck, leitet das Institut für Föderalismus und ist Verfassungsrichter am Liechtensteinischen Staatsgerichtshof.
SN: Wie lang ist es verfassungsrechtlich noch vertretbar, die Grundrechte von geimpften Personen einzuschränken?
Peter Bußjäger: Man muss darauf reagieren, dass es mittlerweile eine immer größere Zahl an Menschen gibt, die zumindest die Krankheit mit großer Wahrscheinlichkeit für einen gewissen Zeitraum nicht bekommen können. Zudem deutet einiges darauf hin, dass auch die Ansteckungsgefahr viel geringer ist als bei Ungeimpften. Wenn man nun berücksichtigt, dass Grundrechtseingriffe immer verhältnismäßig und zur Erreichung eines höheren Ziels erforderlich sein müssen, dann sind Einschränkungen für diese Menschen eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen. Denn zur Zielerreichung der Pandemiebekämpfung ist es nicht mehr erforderlich, dass ich Geimpfte und Nichtgeimpfte gleich behandle.
SN: Welche Beschränkungen sollten also für Geimpfte fallen? Maskenpflicht? Ausgangsbeschränkungen?
Grundsätzlich alle. Wobei man bei manchen Punkten, wie etwa der Maskenpflicht, diskutieren kann, was die Vollziehbarkeit einer Maßnahme betrifft. Sprich: Wenn jeder Geimpfte keine Maske mehr trägt, dann müsste man wohl im Sinne der öffentlichen Gesundheit streng kontrollieren, ob das stimmt. Die Frage ist, ob es in der Menge machbar ist, jeden ohne Maske zu überprüfen. Wahrscheinlich wäre es praktikabler, wenn man solche geringen Einschränkungen vorerst für alle beibehält. Aber in Zukunft wird wohl auch der Nachweis der Impfung durch solche Konzepte, wie etwa den Grünen Pass, einfacher werden. Aber abgesehen von den Masken: Warum sollten Geimpfte keine Veranstaltungen besuchen können oder sich mit so vielen anderen Geimpften treffen, wie sie wollen? Das halte ich nicht nur für sinnvoll, sondern auch für geboten.
SN: Und die Genesenen?
Auch die muss man natürlich mitbedenken. Aber das ist natürlich auch noch eine medizinische Frage. Aber wenn medizinisch klar ist, dass die genesenen Menschen ebenfalls wenig bis nichts zur Virusverbreitung beitragen, dann würde ich diese Personen wie die Geimpften sehen.
SN: Hätte die Rückkehr zu den Grundrechten seit der ersten Genesung und seit dem ersten Stich gelten müssen?
Streng genommen: ja. Aber auch hier gilt meiner Meinung nach das Argument der Vollziehbarkeit der Maßnahmen. Mittlerweile ist aber längst eine kritische Menge erreicht, wo wir ja auch nicht mehr nur von einzelnen Geimpften und Genesenen reden können.
SN: Kritiker sprechen von einer Ungleichbehandlung, weil noch nicht genügend Impfstoff für alle da ist. Man kann es sich also nicht aussuchen, wann man eine Impfung bekommt.
Das ist ein ethisches Problem, das nicht von der Hand zu weisen ist. Aber wenn ich die liberale Grundrechtsordnung auf jedes Individuum umlege, dann kommt heraus, dass Geimpfte und Genesene anders zu behandeln wären. Denn die liberale Grundrechtsordnung ist eben darauf ausgerichtet, dass ich die Freiheit des Einzelnen nur so weit beschränken darf, dass es im öffentlichen Interesse notwendig und verhältnismäßig ist. Und die Verfassung steht hier meiner Meinung nach über der ethischen Debatte. Eben weil es sich um solch massive Grundrechtseinschnitte handelt.
„Die Verfassung steht hier über der ethischen Debatte.“
Peter Bußjäger, Jurist
SN: Also wäre das Ende der Einschränkungen für Geimpfte die Sicherung ihrer Grundrechte und nicht die Einführung eines Impfprivilegs?
So würde ich es sehen. Und dieses ethische Problem wird sich sowieso spätestens dann relativieren, wenn es für alle Impfstoff gibt.
SN: Es werden sich aber wohl nicht alle impfen lassen wollen und auch nicht alle impfen lassen können. Aufgrund von Vorerkrankungen, Allergien oder aufgrund des Alters. Wie löst man dieses Dilemma?
Prinzipiell können diese Einschränkungen, mit denen wir seit über einem Jahr nun leben, ohnehin nur bestehen, solange ein Kollaps des Gesundheitssystems droht. Deshalb muss es bei einer gewissen Durchimpfungsrate, also wenn keine systemische Gefahr mehr vorliegt, eine Aufhebung der Einschränkungen geben, auch für Nichtgeimpfte.
INGE BALDINGER
Christiane Druml ist Bioethikerin, Juristin und Leiterin der Bioethikkommission. Deren Aufgabe ist es, den Bundeskanzler „in allen gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und rechtlichen Fragen aus ethischer Sicht“zu beraten.
SN: Wie lang ist es noch ethisch vertretbar, die Grundrechte von geimpfte Personen einzuschränken?
Christiane Druml: Da es am Anfang so zögerlich ging mit dem Impfen, hat sich in Teilen der Bevölkerung, die gern schon geimpft worden wären, Unmut gebildet. Sie empfanden und empfinden es als ungerecht, warten zu müssen. Verstärkt wurde das dadurch, dass die Priorisierungen in den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt wurden. Dadurch gibt es viele Unzufriedene, das muss man ernst nehmen.
Nichtsdestotrotz: Der Staat hat verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte eingeschränkt. Und die müssen, wenn der Zweck für diese Einschränkungen wegfällt, zurückgenommen werden.
SN: Mit Zweck meinen Sie konkret was?
Die Sicherung des Gesundheitswesens, die Verhinderung von Ansteckungen, also die Gefährdung der eigenen Person und die Gefährdung anderer. Wenn das nicht mehr gegeben ist, müssen die Einschränkungen zurückgenommen werden.
SN: Sind wir schon so weit?
Was den Einzelnen betrifft, gibt es keinen Grund zu warten, bis der Letzte in Österreich geimpft ist.
SN: Gut ein Drittel der Bevölkerung ist zumindest ein Mal geimpft. Kann das Erreichen eines bestimmten Anteils Maßstab sein, um Freiheitsbeschränkungen zu beenden?
Ich glaube nicht. Weil es eben um den Grund der Einschränkungen geht. Und wenn dieser Grund für einen individuellen Menschen nicht mehr gegeben ist, ist nicht zu argumentieren, dass die Einschränkungen für diesen Menschen aufrecht bleiben. Warum soll ich meine Großmutter im Pflegeheim weiterhin nicht besuchen dürfen, weil Person X noch nicht geimpft ist?
SN: Wenn ich geimpft bin und meine Großmutter geimpft ist, müsste ich sie also ohne Besuchsbeschränkungen sehen dürfen – und das sofort.
Genau. Es geht darum, dass Einschränkung für jene Menschen so schnell wie möglich zurückgenommen werden müssen, für die der
Grund der Einschränkung nicht mehr vorhanden ist.
SN: Jetzt hört man oft: Die Jungen hätten Einschränkungen hinnehmen müssen, obwohl sie nicht gefährdet gewesen seien. Die Chance zur Impfung bekämen sie aber erst ganz zum Schluss, während die Älteren und Alten schon dank Impfung das Privileg der Freiheit genießen könnten. Das sei doppelt ungerecht.
Ich finde es sehr schade, wenn das auf so einer Ebene diskutiert wird. Weil damit alte Menschen, die besonders gefährdet waren, zu erkranken und auch zu sterben, gegenüber jungen Menschen ausgespielt werden. Die Jungen haben aber genauso ein Risiko, schwer zu erkranken, die Wahrscheinlichkeit ist nur geringer. Deshalb ist die Priorisierung ja in Richtung Vermeidung von Hospitalisierung und Todesfällen gegangen. Wir müssen schauen, dass die Gesellschaft nicht gespalten wird.
SN: Ist das also eine entbehrliche Diskussion?
Leider wird diese Diskussion befeuert durch das unsägliche Wort Privilegien. Es geht nicht um Privilegien, es geht um Normalität für jene, für die die Grundrechtseinschränkungen nicht mehr gerechtfertigt sind. Der Staat gewährt uns ja nicht Freiheiten, sondern wir haben Freiheiten und der Staat muss begründen, warum er Einschränkungen macht.
Und wer hat etwas davon, wenn ein Geimpfter, weil er Kontaktperson ist, weiterhin zwei Wochen in Quarantäne muss, obwohl es überhaupt keinen Sinn hat? Wer hat etwas davon, wenn ich meine Großmutter nicht besuchen kann? Wer hat etwas davon, wenn ich getestet werden muss, obwohl ich geimpft bin? Es bringt ja niemandem einen Vorteil, wenn ich keinen habe. Zu hören, dass die Alten tanzen, während die Jungen eingeschränkt werden, ist absurd. Gerade die Grundrechte der alten Menschen in den Heimen sind massiv eingeschränkt.
Jung gegen Alt oder Geimpfte gegen Nichtgeimpfte auszuspielen empfinde ich als eine sehr unglückliche und völlig unnotwendige Situation. Jeder, der wieder am normalen Leben teilnehmen kann, hilft uns allen.
SN: Also alle Geimpften sofort raus aus den Beschränkungen?
Genau. Aber es muss für die Freiheitsrückgaben auch die wissenschaftliche Grundlage geben. Derzeit wird davon ausgegangen, dass man drei Wochen nach der ersten Impfung weitgehend geschützt ist. Das ist der Zeitpunkt für die Rückkehr in eine gewisse Normalität.
SN: Heißt das auch: Maske runter für Geimpfte?
Nein. Was uns durch die Pandemie begleiten wird, sind die Hygieneund Abstandsregeln für alle. Wenn jemand ohne Maske im Bus fährt, wissen die anderen ja nicht warum. Geimpft? Genesen? Maskengegner? Die Empfehlung der Bioethikkommission ist daher, dass die Maske weiterhin getragen wird, damit die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden kann.
SN: Die Schäden durch die Coronakrise sind in jeder Hinsicht enorm. Wie steht die Bioethikkommission zu einer Impfpflicht?
Darüber haben wir lang diskutiert. Es gibt viele Meinungen, die sagen, dass eine Impfpflicht nicht unbedingt der beste Weg ist, die Impfrate zu erhöhen, sondern dass mit Information und Motivation mehr erreicht werden kann. Wir empfehlen keine Impfpflicht für die allgemeine Bevölkerung. Wir sehen aber eine Impfung als Berufsvoraussetzung für die Beschäftigten im Gesundheitsund Pflegewesen.
SN: Glauben Sie, dass eine Impfpflicht durch die Hintertür kommen wird? Weil Fluglinien oder Hotels sagen werden:
Nur für Geimpfte.
Möglich, dass so etwas passiert. Privaten kann man das nicht untersagen, wenn sie ihren Gästen besonderen Schutz bieten wollen.
Ich kann nur das sagen, was wir auch als Bioethikkommission so formuliert haben: Freiheit kann man nicht ohne Verantwortung für sich und andere haben. Diese Pandemie hat alle Menschen sehr stark betroffen, von den Kindern aufwärts. Da müssen wir schon gemeinsam etwas tun, um diese Pandemie zu bekämpfen. Und außer der Impfung haben wir nicht viele Möglichkeiten.
SN: Also Hoffen auf einen Meinungsumschwung bei den Impfgegnern und auf die Unentschlossenen?
Ich glaube, dass ohnehin sehr viel getan wird, um die Menschen zu informieren. Ich hoffe, dass das nützt, weil schlicht für jeden von uns das Leben einfacher wird, wenn wir in einer großteils geschützten Gesellschaft leben.
„Es geht nicht um Privilegien.“
Christiane Druml,
Bioethikkommission