Salzburger Nachrichten

Der Brexit hat auf der Insel Fliehkräft­e entfesselt

Nach der Wahl in Schottland ist klar: Die Mehrheit will ein Referendum. Doch Premier Boris Johnson weiß das geschickt zu ignorieren.

- Katrin Pribyl AUSSEN@SN.AT

Man kann das Ergebnis drehen und wenden, wie man will: Unterm Strich steht, dass es im schottisch­en Parlament eine Mehrheit für ein Referendum gibt. Neben der SNP wünschen auch die Grünen die Loslösung vom Königreich. Damit haben die Abspaltung­sbefürwort­er ein Mandat. Diesen Wunsch abzubügeln würde den Unabhängig­keitstraum vieler Schotten nur befeuern. Vielmehr sollten all jene, die an den Wert eines Vereinigte­n Königreich­s glauben, versuchen, für die Union zu kämpfen. Die Argumente sind überzeugen­d und zahlreich. Der Brexit hat demonstrie­rt, wie schwierig sich die Abspaltung von einer tief integriert­en Gemeinscha­ft gestaltet. Die Beeinträch­tigungen für Schottland, seit 314 Jahren eng verflochte­n mit England, wären immens. Die Schotten gegen ihren Willen in dem Arrangemen­t zu halten ist jedoch keine Lösung. Die kategorisc­he Verweigeru­ng Johnsons ist nicht nur politisch problemati­sch, sondern hat etwas zutiefst Undemokrat­isches.

Die Schotten verdienen angesichts der Parlaments­zusammense­tzung die Wahl. Boris Johnson weiß das, will aber nicht in die Geschichte eingehen als Premier, der Schottland verloren hat. Daher setzt er auf die Verzögerun­gstaktik – und nutzt dafür die Krise. Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt, heißt es. Wann aber würde der kommen? Die wirtschaft­lichen Folgen werden das Land viele Jahre beschäftig­en. Die SNP könnte am Ende ausmanövri­ert werden und an Momentum verlieren.

Die Auflösungs­erscheinun­gen kommen kaum überrasche­nd. Der Brexit hat auf der Insel Fliehkräft­e entfesselt, die schwer wieder einzufange­n sind. Johnson könnte neben Schottland auch Nordirland entgleiten, wo die Nationalis­ten mit einer irischen Wiedervere­inigung liebäugeln. Selbst Wales präsentier­t sich dieser Tage aufmüpfig. Am Ende zeigt sich deutlicher als je zuvor, dass es sich beim Brexit-Votum vor allem um einen englischen Aufstand handelte.

In Schottland personifiz­iert Johnson den verhassten englischen Nationalis­mus. Deshalb wird der Premier nun versuchen, die schottisch­en Rebellen zu beruhigen – mit Aufmerksam­keit, Zugeständn­issen und Geld. Er wie auch seine Regierungs­kollegen werden zudem nicht müde, den Wert der Union zu betonen. Sie prophezeie­n für den Fall des Auseinande­rbrechens ein wirtschaft­liches Desaster. Ganz nach dem Motto: stärker als Teil der Gemeinscha­ft. Die Ironie dürfte selbst den Brexit-Hardlinern kaum entgehen, die jahrelang alle Warnungen vor einem Alleingang Großbritan­niens als Panikmache abtaten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria