Der Brexit hat auf der Insel Fliehkräfte entfesselt
Nach der Wahl in Schottland ist klar: Die Mehrheit will ein Referendum. Doch Premier Boris Johnson weiß das geschickt zu ignorieren.
Man kann das Ergebnis drehen und wenden, wie man will: Unterm Strich steht, dass es im schottischen Parlament eine Mehrheit für ein Referendum gibt. Neben der SNP wünschen auch die Grünen die Loslösung vom Königreich. Damit haben die Abspaltungsbefürworter ein Mandat. Diesen Wunsch abzubügeln würde den Unabhängigkeitstraum vieler Schotten nur befeuern. Vielmehr sollten all jene, die an den Wert eines Vereinigten Königreichs glauben, versuchen, für die Union zu kämpfen. Die Argumente sind überzeugend und zahlreich. Der Brexit hat demonstriert, wie schwierig sich die Abspaltung von einer tief integrierten Gemeinschaft gestaltet. Die Beeinträchtigungen für Schottland, seit 314 Jahren eng verflochten mit England, wären immens. Die Schotten gegen ihren Willen in dem Arrangement zu halten ist jedoch keine Lösung. Die kategorische Verweigerung Johnsons ist nicht nur politisch problematisch, sondern hat etwas zutiefst Undemokratisches.
Die Schotten verdienen angesichts der Parlamentszusammensetzung die Wahl. Boris Johnson weiß das, will aber nicht in die Geschichte eingehen als Premier, der Schottland verloren hat. Daher setzt er auf die Verzögerungstaktik – und nutzt dafür die Krise. Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt, heißt es. Wann aber würde der kommen? Die wirtschaftlichen Folgen werden das Land viele Jahre beschäftigen. Die SNP könnte am Ende ausmanövriert werden und an Momentum verlieren.
Die Auflösungserscheinungen kommen kaum überraschend. Der Brexit hat auf der Insel Fliehkräfte entfesselt, die schwer wieder einzufangen sind. Johnson könnte neben Schottland auch Nordirland entgleiten, wo die Nationalisten mit einer irischen Wiedervereinigung liebäugeln. Selbst Wales präsentiert sich dieser Tage aufmüpfig. Am Ende zeigt sich deutlicher als je zuvor, dass es sich beim Brexit-Votum vor allem um einen englischen Aufstand handelte.
In Schottland personifiziert Johnson den verhassten englischen Nationalismus. Deshalb wird der Premier nun versuchen, die schottischen Rebellen zu beruhigen – mit Aufmerksamkeit, Zugeständnissen und Geld. Er wie auch seine Regierungskollegen werden zudem nicht müde, den Wert der Union zu betonen. Sie prophezeien für den Fall des Auseinanderbrechens ein wirtschaftliches Desaster. Ganz nach dem Motto: stärker als Teil der Gemeinschaft. Die Ironie dürfte selbst den Brexit-Hardlinern kaum entgehen, die jahrelang alle Warnungen vor einem Alleingang Großbritanniens als Panikmache abtaten.