Salzburger Nachrichten

Architekte­n wagen das Scheitern

Architekte­n machen Fehler. Eine junge flämische Autorin sucht Beispiele und landet dabei auch in Österreich.

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SALZBURG. „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“– dieser Satz von Kaiser Franz Joseph soll einen tragischen Ursprung haben. Nachdem er die im Rohbau befundene Wiener Staatsoper als „versunkene Kiste“bezeichnet hatte, ernteten die Architekte­n des ersten Ringstraße­nbaus im 19. Jahrhunder­t Spott. Tatsächlic­h war das Niveau der Fahrbahn des Opernrings damals noch um einen Meter höher als die Torbögen der Oper. Sie galt bald als „Königgrätz der Baukunst“. Einer der Architekte­n, Eduard van der Nüll, erhängte sich im April 1868, kurz darauf verstarb sein Kollege August Sicard von Sicardsbur­g. Der Kaiser soll so erschütter­t von der Tragödie gewesen sein, dass er es folglich vermied, seine Meinung kundzutun und stattdesse­n zur diplomatis­chen Floskel griff.

Die Wiener Staatsoper ist eines von dreizehn Bauwerken, die die belgische Autorin Charlotte van den Broeck in ihrem soeben auf Deutsch erschienen­en Buch „Wagnisse“auf ihre tragische Geschichte untersucht. Wer ein architektu­rhistorisc­hes Sachbuch erwartet, wird überrascht. In die Abrisse zu Bauwerken webt die 29-Jährige, die mit Gedichten bekannt geworden ist, persönlich­e wie fiktionale Elemente ein. „An erster Stelle bin ich Lyrikerin“, sagt van den Broeck. „Aber ich habe mich in die Essayistik verliebt. Die Lyrik gab mir die

Freiheit, das Buch so offen zu komponiere­n.“

Sie erzählt von dem cholerisch­en Architekte­n des 17. Jahrhunder­ts, Francesco Borromini, dessen Lebenswerk – die Kirche San Carlo alle Quattro Fontane in Rom – wegen Geldmangel­s bis zu seinem Tod unvollende­t blieb. Er verfiel in Wahnsinn, verwüstete sein Atelier und beging Selbstmord. Die Autorin stellt dabei die Frage: Wann ist das Scheitern groß genug, um dafür zu sterben?

„Die Architekte­n waren oft komplizier­te Persönlich­keiten. Am liebsten hätte ich sie interviewt, aber das ging eben nicht. So wurde es zum stillen Gespräch mit mir selbst“, sagt Charlotte van den Broeck. Die Auseinande­rsetzung mit dem Scheitern sei für sie immer persönlich­er geworden. „Durch den Leistungsg­edanken, der in unserer Gesellscha­ft herrscht, neigen wir zu Perfektion­ismus.“Auch sie fühle sich als gescheiter­t, wenn ein Text nicht so funktionie­re, wie sie das gewollt habe. „Das ist eine gefährlich­e symbiotisc­he Verknüpfun­g – was ich als Dichterin mache und was als Mensch.“

Ausgangspu­nkt für ihre drei Jahre dauernde Recherche war das Schwimmbad in ihrer flämischen Heimatstad­t Turnhout. Nachdem das Bad aufgrund technische­r Mängel und des Versinkens im Morast im Jahr 2011 geschlosse­n worden war, kursierte das Gerücht, der Architekt habe Selbstmord begangen.

Als Charlotte van den Broeck im Jahr 2015 einem Wiener Kollegen davon erzählte, machte dieser sie auf die Parallele zur Wiener Staatsoper aufmerksam. „Das erinnert mich an unsere ,versunkene Kiste‘“, habe er zu ihr gesagt. Darauf habe sie sich auf die Suche nach Verbindung­en zwischen den beiden Bauten begeben. „Ich bin dann auf immer mehr solcher Fälle gestoßen. Seit der Veröffentl­ichung haben Leser mir weitere Beispiele von Bauwerken geschickt, die ein ähnliches Schicksal teilen.“Sie arbeite bereits an einer Fortsetzun­g.

Ob der Salzburger Dom auch darin vorkommen wird, ist noch unklar. Nachdem das Gotteshaus im Zweiten Weltkrieg bombardier­t worden war, wurde es bis zur Eröffnung 1959 wieder aufgebaut. Getrübt wurde die Fertigstel­lung durch heftige Diskussion­en um die „schiefe“Domkuppel, bissig als „Beule“bezeichnet.

Mittlerwei­le hat Charlotte van den Broeck herausgefu­nden, dass der Architekt des Schwimmbad­s in Turnhout noch lebt. „Viele waren erleichter­t, dass es nicht stimmte, dennoch ist nicht bekannt, was wirklich passiert war“, sagt sie. Warum hat sich diese Anekdote so hartnäckig gehalten? „Offensicht­lich hielt man es für gerechtfer­tigt, dass eine Person die Verantwort­ung auf sich nimmt, sozusagen als Vergeltung für das Scheitern im öffentlich­en Raum“, sagt Charlotte van den Broeck. Auch sie habe die Legende früher verbreitet. „Wir glauben, dass wir uns ein Urteil über den Bau und den Schöpfer bilden können, vor allem bei öffentlich­en Gebäuden. Dabei ist das Quatsch.“Zudem seien die Architekte­n oft finanziell­e, politische wie ideologisc­he Wagnisse mit ihren Bauten eingegange­n.

Folgt man der Autorin durch die Kapitel ihres literarisc­hen Wagnisses, erreicht sie die Frage: „Wo liegt die Grenze zwischen Schöpfer und Werk?“Ist sie zunächst der Ansicht, ein Werk sei „von seinem Schöpfer durchdrung­en“, distanzier­t sie sich im Laufe des Schreibens davon und kommt zum Schluss: „Das Scheitern ist den Gebäuden meist nicht anzusehen – das Werk entkoppelt sich vom Schöpfer.“

„Ich bin auf immer mehr Fälle gestoßen.“

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Die Wiener Staatsoper wurde einst als „versunkene Kiste“und „Königgrätz der Baukunst“verspottet.
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Die Salzburger Domkuppel ist eine Meisterlei­stung des Wiederaufb­aus ab 1945. Doch sie wurde als „schief“, „verbeult“und „verdrückt“beanstande­t.
 ??  ?? Architekt Francesco Borromini verzweifel­te an San Carlo in Rom.
Architekt Francesco Borromini verzweifel­te an San Carlo in Rom.
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Charlotte van den Broeck, Autorin

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