Wenn die Stimme des Imams zu laut erschallt
In Saudi-Arabien ist ein Streit über die Lautstärke der Muezzinrufe entbrannt. Auch andere Länder ringen um Lösungen.
Ali Ahmad Mulla war 14, als er in die Masjid Al-Haram, die „Große Moschee“von Mekka, aufgenommen wurde, um als einer von vier Lehrlingen zum Muezzin ausgebildet zu werden. 43 Jahre später erkennen ihn die meisten saudischen Gläubigen an seiner melodischen Stimme, mit der der ehrwürdige Imam fünf Mal am Tag zum Gebet ruft. Mehr als 60 kabellose Lautsprecher übertragen den Azan in dem riesigen Gotteshaus.
Um dem Gebetsruf das volle Volumen zu verleihen, werden die Regler am Mischpult dann ganz nach oben geschoben. Doch das soll sich jetzt ändern. Der Muezzin müsse leiser werden, verfügte der saudische Minister für islamische Angelegenheiten, Abdullatif al-Scheich. Deshalb dürften die Lautsprecher in allen Moscheen des Landes nur noch auf ein Drittel der maximalen Lautstärke aufgedreht werden – und zwar nur für die Dauer des Azans und nicht mehr für das anschließende Rezitieren von langen Gebeten.
Für das extrem konservative Saudi-Arabien, den Geburtsort des Islams, bedeuten die Einschränkungen eine kleine Revolution. Die Begründung des Religionsministers klingt plausibel. Kinder, Kranke und Alte würden unter der extremen Beschallung
besonders in den frühen Morgenstunden oft extrem leiden. Zudem störten die unterschiedlichen Koranrezitationen aus den verschiedenen Moscheen, die nicht selten nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt liegen, die Gläubigen bei ihrem Zwiegespräch mit dem Allmächtigen.
Diejenigen, die wirklich beten wollten, bräuchten nicht auf die Stimme des Imams warten. Sie sollten schon vorher in der Moschee sein, sagte der Minister. Al-Scheich gilt als ein enger Vertrauter Mohammed bin Salmans. Der saudische Kronprinz will sein Land „zu einem modernen Islam zurückführen“. Es gelang ihm, die verhasste
Religionspolizei, die für die strikte Einhaltung der Gebetszeiten verantwortlich war, zu entmachten.
Völlig mundtot sind die fundamentalistischen Hardliner freilich nicht. Das zeigt die zum Teil geharnischte Kritik an der Anordnung des Religionsministers. „Das ist Verrat am Islam“, empörte sich ein User auf Twitter. Die Gängelung der Muezzins sei ein „weiterer Schritt zu mehr Korruption, Sittenverfall und Verwestlichung“, empörte sich die regierungskritische Website Saudileaks.org. Es sei unlogisch und widersinnig, laute Musikberieslung in Cafés und Restaurants zu gestatten und gleichzeitig die Gebetslautsprecher zu drosseln. Al-Scheich bezeichnete die Kritiker pauschal als „Unruhestifter und Feinde des Königreichs“, die den nationalen Zusammenhalt zerstören wollten. Trotzdem hielt es der Minister für notwendig, seinen „Dämpfungserlass“zu lockern. So soll es den Muezzins zumindest an Freitagen und Feiertagen möglich sein, in voller Lautstärke zum Gebet zu rufen.
Das Volumen des Gebetsrufs beschäftigt auch andere arabische Staaten sowie das multikonfessionelle Israel. In Ägypten bemüht man sich seit Jahren erfolglos um eine Vereinheitlichung des Azans. Der Ruf sollte per Radio übertragen und dann von den rund 5000 Kairoer Moscheen ausgestrahlt werden.