Die NATO nimmt China ins Visier
Das klingt wie Musik in den Ohren der Europäer. Dennoch wird ihnen der US-Präsident nicht alle Wünsche erfüllen.
BRÜSSEL. Die NATO will sich deutlich stärker als bisher mit dem aufstrebenden China beschäftigen. „Der wachsende Einfluss Chinas und seine internationale Politik können Herausforderungen bergen, die wir als Bündnis gemeinsam angehen müssen“, heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels der 30 NATO-Mitglieder am Montag in Brüssel. Vor allem die USA unter ihrem neuen Präsidenten Joe Biden sehen den Wettkampf der liberalen westlichen Demokratien mit autoritären Systemen wie China und Russland als das große Thema der kommenden Jahrzehnte.
Die NATO werde China künftig „mit Blick auf die Verteidigung der Sicherheitsinteressen des Bündnisses einbeziehen“, hieß es. Peking wird ermahnt, seine „internationalen Verpflichtungen einzuhalten“.
Interessant ist die Wortwahl: China wird nicht als „Bedrohung“gesehen, sondern als „Herausforderung“. Dies kommt der Haltung der Europäer näher.
Weniger Interpretation gibt es im Verhältnis zu Russland. Es herrscht Einigkeit, dass die Aktionen des Kreml eine Bedrohung darstellen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nannte die Beziehungen zu Moskau „so schlecht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr“. Dennoch bleibe die NATO offen für Dialog.
Mit Erleichterung wurde das ausdrückliche Bekenntnis des amerikanischen Präsidenten zur Beistandspflicht aufgenommen. In Artikel 5 des NATO-Vertrags heißt es: „Ein bewaffneter Angriff auf ein Mitglied ist als ein Angriff auf alle anzusehen.“Das war von Bidens Vorgänger Donald Trump in Zweifel gezogen worden.
SYLVIA WÖRGETTER MARTIN STRICKER
BRÜSSEL. Was für ein Reigen: Nach dem G7-Treffen im britischen Cornwall am Wochenende folgte am Montag die Zusammenkunft aller 30 NATO-Staaten in Brüssel. Joe Biden, der da wie dort die erste Geige spielt, darf zufrieden sein. Die Partner folgen der Richtung, die der USPräsident auf seiner ersten EuropaVisite vorgibt: das immer machtbewusstere China als Rivalen zu sehen und das auch zu benennen.
Beim NATO-Treffen 2019 waren noch „Chancen“im Verhältnis zu China genannt worden. Davon ist keine Rede mehr. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach dem Treffen, China, aber auch Russland bedrohten die internationale, auf Regeln beruhende Ordnung. In der übergeordneten NATO-Strategie, deren aktuelle Fassung aus 2010 stammt, kommt China nicht einmal vor. In Brüssel erfolgte nun der Startschuss zur Überarbeitung des Konzepts. Gleichzeitig wird das NATO-Budget erhöht.
Es ist eine bemerkenswerte Verschärfung des Tons. Doch das stete Vordringen Pekings auch nach Europa hat die Alarmglocken zum Läuten gebracht. Der weitgehende Aufkauf des griechischen Hafens
Piräus wurde zum Synonym dafür, wie China Abhängigkeiten schafft. Die Stimmung hat sich gedreht. In Rom etwa legte der neue Regierungschef Mario Draghi die Zusammenarbeit mit China im Rahmen des Seidenstraßenprojekts auf Eis, die Italien noch vor zwei Jahren eingegangen war. Derzeit gilt Ungarns Premier Viktor Orbán als strammster Peking-Freund in der EU.
Das Verhältnis zu Russland bezeichnete Stoltenberg als „so schlecht wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr“. Das liege an „Russlands aggressiven Handlungen“. Dazu zählen etwa die Einmischung
des Kreml in Wahlkämpfe westlicher Staaten, Militäroperationen nahe und in der Ostukraine oder Geheimdienstoperationen bis zu Morden auf EU-Gebiet. Gegenüber Moskau bleibe das Bündnis bei seiner Doppelstrategie aus „Abschreckung und Dialog“, sage Stoltenberg.
Besonders exponiert sehen sich die baltischen Staaten, die ja eine
Grenze zu Russland teilen. Biden sagte die ausdrückliche Unterstützung der USA zu. Er nannte den gegenseitigen Beistand in der NATO im Fall eines Angriffs eine „heilige Pflicht“.
Dem 1949 gegründeten Bündnis gehören 30 Staaten an, neben den USA und Kanada auch 21 EU-Staaten, Island, Norwegen, die Türkei und die kleinen Balkanländer Albanien, Montenegro und Nordmazedonien. Keine NATO-Mitglieder sind Österreich, Irland, Malta, Zypern, Schweden und Finnland.
Auf dem Gipfel waren fünf der 30 Länder durch Frauen vertreten: Deutschland (Kanzlerin Angela Merkel), die Slowakei (Präsidentin Zuzana Čaputová), Dänemark (Premier Mette Frederiksen), Norwegen (Premier Erna Solberg) und Estland (Regierungschefin Kaja Kallas).
Die NATO sei wichtig für Amerika, betonte Biden: „Ich will, dass ganz Europa weiß, dass die USA hier sind.“Stoltenberg gab das Kompliment zurück. „Ich weiß, dass wir uns auf Amerika verlassen können und dass Amerika sich auf Europa verlassen kann.“
Das klingt wie Musik in den Ohren der Europäer, nachdem Joe Bidens Vorgänger Donald Trump das Bündnis als „obsolet“bezeichnet, die Beistandspflicht infrage gestellt und im Stil eines Mafia-Paten
vor allem mehr Geld gefordert hatte.
Die Spitzen der Europäischen Union erhoffen sich von Bidens Besuch in Brüssel noch mehr. Beim Treffen mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstag soll ein Ende der US-Zölle auf Aluminium und Stahl erreicht werden. Mit deren Einführung hatte Donald Trump 2018 einen Wirtschaftskonflikt vom Zaun gebrochen. Die EU antwortete mit Vergeltungszöllen auf US-Produkte wie Jeans und Harley-Davidson-Motorräder. Um gutes Wetter zu machen, hat die EU auf eine vorgesehene Verschärfung dieser Zölle im Juni verzichtet.
Trotzdem dürfte Biden dem Wunsch der Europäer kaum nachkommen. Die US-Zölle kommen in den Vereinigten Staaten bei Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretern in Bidens demokratischer Partei gut an. Möglich scheint lediglich, dass der Konflikt um Staatssubventionen für Boeing auf US- und für Airbus auf EU-Seite beigelegt wird.
Auch China wird erneut zum Thema. Es dürfte Joe Biden nicht unrecht sein, dass das kurz nach seinem Amtsantritt ausverhandelte Investitionsabkommen zwischen der EU und Peking derzeit weit von einer Ratifizierung entfernt ist.
„Werden eine neue Strategie ausarbeiten.“
Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär