Brahms „mit Bart und Bauch“hat ausgedient
KARL HARB
MÜNCHEN. Wenn Sir András Schiff zum Klavier schreitet, bedächtig, jeder Äußerlichkeit abhold, merkt man immer: Hier gilt’s der Kunst. Konzentration auf das Wesentliche, auf die Substanz. Heiliger Ernst. Anders als etwa die Aura der Unnahbarkeit, die Grigory Sokolov umgibt, scheint man aber bei Schiff eine Art grüblerischer Nachdenklichkeit zu spüren, ein beständiges Fragen und Nachfragen nach der Essenz der Musik.
In letzter Zeit äußerte sich der mittlerweile 67-jährige ungarischbritische Pianist angesichts der Coronasperre des Musiklebens kritisch über Konzertprogramme, die oft Jahre im Voraus feststehen müssen, oder über ritualisierte Bedingungen des Auftretens. Er plädiert vehement für pausenlose Programmabfolgen aus Gründen der beiderseitigen Konzentration: des Musikers wie der Hörer. Und er denkt seit je über bestmögliche Übereinstimmung zwischen Werk und Ausführung nach, zwischen
CD:
Entstehungsgeschichte und aktuellen Gegebenheiten, Tradition und ihrer Bedeutung für das Hier und Jetzt. So sind auch seine Projekte, ob live oder für CD „konserviert“, immer kritische Befragung, auch wenn er (vor Corona) durchaus zu den „Vielspielern“zählte.
Die CD-Aufnahmen für das Münchner Edellabel ecm – Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Janáček – sind jeweils Produkte hochgradiger Reflexion und sensibler Materialbefragung. Schiff fördert und fordert als Pianist nichts anderes als: offene Ohren.
Zeit der Reife: Sie offenbart sich nun im neuesten Konzert- und Aufnahmeprojekt, den beiden so unterschiedlichen und doch kohärenten Klavierkonzerten von Johannes Brahms, op. 15 und op. 83, voll jugendlich ungestümer Kraft das eine in d-Moll, das zwischen 1854 und 1859 verschiedene Stadien der Entstehung durchlaufen hat, sich abarbeitend am Koloss Beethoven; voll im besten Sinne durchgeistigter, geklärter und ausbalancierter Energie das andere in B-Dur, 22 Jahre später entstanden. Die beiden Stücke werden im Prinzip gerne als Schlachtrösser der Pianistik aufgezäumt, prunkend virtuos, plastischvollgriffig den ganzen Kerl fordernd. Den modernen Konzertsälen angepasster, aufgedonnerter Orchesterapparat und majestätische (von Schiff immer ein wenig süffisant so apostrophierte Steinway-) Ästhetik verstellen aber oft sowohl die historischen Bedingungen als auch die Tiefenperspektive auf die gleichwohl kolossalen Werke.
Dem tritt András Schiffs neue Interpretation entgegen. Gemeinsam mit dem exzellenten Orchestra of the Age of Enlightenment in historisch informierter Aufführungspraxis und auf einem eleganten, obertonreichen Flügel der Leipziger Firma Julius Blüthner von 1859 spielend, rückt er die Dimensionen zurecht auf eine leuchtende bis fragile Romantik. Brahms’ bevorzugtes Orchester, Hans von Bülows Kapelle von Meiningen, umfasste damals maximal fünfzig Musiker, was selbst den vorgeblich dicken Passagen seiner Musik feinfühlige Struktur und Transparenz erlaubt. Das plakative Stereotyp Brahms „mit Bart und Bauch“sollte demnach ausgedient haben.
Was nicht heißt, dass Kraft nicht möglich wäre – allerdings nie als Kraftmeierei. Im Gegenteil: Schon die Einleitung zum 1. Klavierkonzert detoniert wie ein elementares Erdbeben. Die vielen klug und fein abgestuften Sanglichkeiten – im zweiten von noch viel zaubrerischer Anmut – entwickeln eine Wertigkeit an pianistischen und orchestralen Farben, wie man sie selten hört. Die innige Verschmelzung von Klavier und Ensemble ergibt neue Gewichtungen, die wohl noch dadurch intensiviert werden, dass kein Dirigent als Instanz sich einmischt. Schiff koordiniert und leitet die Konzerte vom Flügel aus, was ein anderes Aufeinander-Hören, ein intensives Geben und Nehmen bedingt. Das ist im Geiste kammermusikalisch, im Gestus aber durchaus jederzeit füllige, „große“Musik.
Vielleicht ist diese BrahmsSicht nicht revolutionär, etwa im Sinne Harnoncourts, oder grundstürzend neu. Für die vier Symphonien gibt es Beispiele genug, die luzide Transparenz einfordern, von Norrington bis Rattle, und auch „klassische“Einspielungen der Klavierkonzerte sind nicht nur opulent. Auf sein Erweckungserlebnis durch Artur Rubinstein in Budapest weist schließlich András Schiff selbst hin. Aber diese neue Einspielung wirft, im besten Sinne, Ballast genug ab, um die Ohren neu zu justieren. Enlightenment: Licht der Aufklärung. Hier wird’s vital und im schönsten Sinne erhellend Gestalt und Ereignis.