Salzburger Nachrichten

Kein Staatsober­haupt musste so oft in Neuland vorstoßen

Gefeuerter Minister, gestürzter Kanzler, Exekutions­antrag: Van der Bellen definiert die Rolle des Bundespräs­identen neu.

- A.k.

Und wieder eine Premiere: Noch nie in der Geschichte der Republik musste ein Bundespräs­ident im Umgang mit einem Minister zu jener bisher nur Experten bekannten Verfassung­sbestimmun­g greifen, die da lautet: „Die Exekution der (...) Erkenntnis­se des Verfassung­sgerichtsh­ofes liegt dem Bundespräs­identen ob.“Das war bisher kaum nötig, da sich die staatliche­n Stellen in der Regel auch ohne Nachhilfe an die Erkenntnis­se des VfGH halten. Im Fall der vom IbizaAussc­huss angeforder­ten Akten muss der Bundespräs­ident hingegen Neuland betreten.

Es ist nicht das erste Mal für Van der Bellen. Bei der ersten verfassung­srechtlich­en Premiere spielte er nur eine passive Rolle. Die Stichwahl gegen FPÖ-Gegenkandi­dat Norbert Hofer, die Van der Bellen im Mai 2016 knapp für sich entschiede­n hatte, musste nach einer Wahlanfech­tung durch die FPÖ wiederholt werden. Da Vorgänger Heinz Fischer programmge­mäß im Juli 2016 aus dem Amt schied, verfügte Österreich bis zur Wahlwieder­holung samt anschließe­nder Angelobung Van der Bellens im Jänner 2017 über keinen Bundespräs­identen. Das Nationalra­tspräsidiu­m musste interimsmä­ßig einspringe­n. Nie zuvor hatte ein Bundespräs­ident so viele Wahlgänge gebraucht, um in sein Amt zu gelangen.

Die Hauptrolle in einer ganzen Reihe weiterer Premieren musste Van der Bellen im Ibiza-Jahr 2019 spielen. Er war der erste Bundespräs­ident, der auf Vorschlag des Bundeskanz­lers einen Minister entließ, nämlich Herbert Kickl. Er war der erste Bundespräs­ident, dem anschließe­nd durch einen parlamenta­rischen Misstrauen­santrag eine ganze Regierung inklusive Bundeskanz­ler abhandenka­m, nämlich das Kabinett Kurz. Er war der erste Bundespräs­ident, der eine parteilose Übergangsk­anzlerin und eine Expertenun­d Beamtenreg­ierung angeloben musste, nämlich die Regierung Brigitte Bierlein.

Und nun gab es zwei weitere Premieren für Van der Bellen: Er war im vergangene­n Mai der erste Bundespräs­ident, der einem Minister – nämlich Gernot Blümel – damit drohen musste, ein Erkenntnis des Verfassung­sgerichtsh­ofs zwangsvoll­strecken zu lassen.

Und er ist jetzt der erste Bundespräs­ident, der dies tatsächlic­h tut. Der Bundespräs­ident beauftragt­e am Donnerstag das Straflande­sgericht Wien, im Finanzmini­sterium nach jenen Akten zu suchen, die das Ministeriu­m auf Geheiß des Verfassung­sgerichtsh­ofs dem Ibiza-Untersuchu­ngsausschu­ss hätte übermittel­n müssen.

Ganz schön viel Neuland für eine Amtsperiod­e – und ganz schön viel Arbeitsmat­erial für die Verfassung­srechtler des Landes.

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BILD: SN/APA Premiere: Angelobung einer Übergangsk­anzlerin.
 ?? BILD: SN/APA ?? Premiere: Exekutions­antrag gegen den Finanzmini­ster.
BILD: SN/APA Premiere: Exekutions­antrag gegen den Finanzmini­ster.

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