Kein Aufatmen in Lateinamerika
Die nächste Coronawelle überrollt die Region mit der höchsten Todesrate der Welt. Mit der Pandemie kam auch der Protest gegen die Regierungen – und er wird bleiben.
Während die Menschen in vielen Teilen der Welt aufatmen und Infektionszahlen sinken, steht Lateinamerika vor einer neuen Coronawelle, die mehr Ansteckungen und Todesfälle, wirtschaftliches Leid und noch mehr Armut bringen wird. Brasilien meldete am Wochenende eine halbe Million Tote, Peru beklagt bald 200.000 Opfer, Kolumbien durchbrach gerade die Marke von hunderttausend Toten und Argentinien steht kurz davor. In Mexiko-Stadt wird die Coronaampel nach wochenlanger Grünphase aus Angst vor der neuen Delta-Variante jetzt wieder auf Orange geschaltet.
Wann und ob die Pandemie in Lateinamerika abklingen wird, ist unklar, aber die sozialen Proteste gegen die Regierungen werden gewiss anhalten. Die Gesundheitskrise fördert ein neues soziales und politisches Engagement der Bevölkerung zutage. Das ist – wenn man so will – ein Kollateralgewinn der Pandemie.
Aber: Bis Mitte Juni starben in der Region 1,25 Millionen Menschen an Covid-19. Das sind fast 30 Prozent der globalen Opfer. Dabei leben in Lateinamerika nur 8,4 Prozent der Weltbevölkerung. Acht von zehn Ländern mit den weltweit höchsten Corona-Todeszahlen pro Kopf liegen in der Karibik oder in Lateinamerika. Die stärksten Volkswirtschaften Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Argentinien sind dabei am härtesten betroffen.
„In unserer Region ist dieses das schlimmste Jahr der Pandemie,“sagt Carissa F. Etienne, Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation, die zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört. „In vielen Ländern erleben wir gerade die höchsten Inzidenzen seit Ausbruch der Pandemie.“Zudem etabliert sich in Lateinamerika die
Mutation C.37., die auch Andenoder Lambda-Variante genannt wird. Sie wurde von der WHO vor Kurzem in die Kategorie „unter Beobachtung“eingestuft und bereits in 29 Staaten, darunter sieben in Lateinamerika, entdeckt.
Die Länder Lateinamerikas scheinen den Kampf gegen die Pandemie zu verlieren. Denn sie kostet nicht nur eine Unzahl an Menschenleben, sondern auch Arbeitsplätze. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind in mehr als einem Jahr Pandemie in der Region 26 Millionen Jobs vernichtet worden.
Zudem hinken viele Länder bei den Impfungen hinterher. In den Staaten Zentralamerikas sind gerade zwei der 44 Millionen Menschen geimpft. In der Karibik sind es drei von 34 Millionen.
Die Ursachen? Populisten, Ignoranten und schlicht unfähige Staats- und Regierungschefs sind eine Seite des komplexen Problems. Marode Gesundheitssysteme die andere. Mehr als die Hälfte der Menschen in der Region arbeiten im informellen Sektor als Schuhputzer, Parkplatzeinweiser oder Obstverkäufer, also als Tagelöhner. Sie haben keinerlei sozialen Schutz. Und gerade in diesen Zeiten zeigt sich, wie unterfinanziert und schlecht ausgestattet die öffentlichen Gesundheitssysteme sind, die angesichts der großen Anzahl schwerer Infektionsfälle vielerorts vor dem Kollaps stehen.
Auch Errungenschaften in der Armutsbekämpfung sind durch die Pandemie wie weggespült. Laut UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) sind inzwischen 33,7 Prozent
der Menschen in der Region arm – der höchste Wert seit zwölf Jahren. 209 der 654 Millionen Latinos haben nicht genügend zu essen oder kein würdiges Dach über dem Kopf. Die Wirtschaftskraft der Region fiel im ersten Pandemiejahr im Schnitt um 7,7 Prozent.
All das ist traurig und altbekannt in Lateinamerika. Etwas aber ist neu und gut: Die Menschen in Brasilien, Kolumbien, Chile und Peru wehren sich gegen ihre eigenen Regierungen, wenn diese nicht gegen die Pandemie ankämpfen oder die wirtschaftlichen Folgen auf die Armen und Schwachen abwälzen wollen. Seit Wochen gehen etwa die Kolumbianer gegen ihren Präsidenten Iván Duque auf die Straße, nachdem er eine umstrittene Steuerreform durchsetzen wollte. Und gegen das Corona-Krisenmanagement von Staatschef Jair Bolsonaro protestierten am Wochenende Zehntausende Brasilianer.