„Aufräumen, schaufeln, Ziegel besorgen und das Dach decken“
Das Dorf Moravská Nová Ves in Südmähren wurde von einem Wirbelsturm nahezu vollständig zerstört. Lokalaugenschein am Tag eins nach der Katastrophe.
Man müsste die Augen gar nicht öffnen, um zu ahnen, dass in Moravská Nová Ves etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Aus allen Richtungen jaulen Sirenen, werden lauter, wieder leiser. Ins hundertfache Stimmengewirr mischt sich das Kratzen von Baggerschaufeln. Auch der Geruch verheißt Bedrohliches. In all den Wunden, die ein Tornado am Donnerstagabend in die Häuser geschlagen hat, klebt Schlamm, der in der heißen Mittagssonne langsam zu Staub trocknet. Öffnet man die Augen, hat man sofort die traurige Bestätigung: Der 2500-Einwohner-Ort nahe Břeclav in Südmähren ist nahezu vollständig zerstört. Der Wirbelsturm hat nicht nur in Moravská Nová Ves eine Spur der Verwüstung hinterlassen, auch das benachbarte Hrušky wurde regelrecht dem Erdboden gleichgemacht.
„Pozor“, schreit Pavel, „Achtung“, bevor er zum Wechseln ins Deutsch genötigt wird. Dann fliegt ein Ziegel aus einem Loch, das im Dach klafft. „Ich kann dir nicht sagen, wie sich das angefühlt hat. Ich weiß nur, ich hatte nach langer Zeit wieder einmal Todesangst.“Pavel, 64 Jahre alt, wohnt an der Hauptstraße, die zur Kirche hinauf führt.
Auch das Gotteshaus, das sieht man selbst aus der Ferne, ist schwer beschädigt. „Schau dir den Josef an, der hat es auch nicht überlebt.“Pavel meint den heiligen Josef, die alte Statue aus dem Jahr 1858. Die Bruchstelle am Hals ist noch frisch und leuchtet hell. Der Kopf ist ab. Rund um ihn ragen Reste von Bäumen aus dem Boden, zerfetzt von jener ungeheuren Kraft, die auch Straßenlaternen und Strommasten geknickt und verbogen hat, als handle es sich um billiges Kinderspielzeug. „Als es losging, habe ich mir nichts dabei gedacht“, sagt Pavel.
Niemand habe sich etwas dabei gedacht. „Warum auch? Es gab hier noch nie einen Tornado.“
„Es fühlt sich an, als wäre eine erbarmungslose Armee durch Moravská Nová Ves gestürmt“, sucht Pavel nach Vergleichen. Es fühlt sich nicht nur so an, es sieht auch so aus. Auf den Grünstreifen zwischen den Häuserzeilen und der Hauptstraße stehen Autos. Besser gesagt: die Reste von den Fahrzeugen. Der unsichtbare Mob hat ganze Arbeit geleistet. „Irgendwann dachte ich mir: Das ist nicht normal“, erinnert sich Pavel an die verhängnisvollen Augenblicke am Donnerstag. Denn viel mehr war es nicht. „Ein paar Minuten, dann war alles vorbei. Ich bin im Keller in Deckung gegangen.“Das habe er ganz instinktiv gemacht, so wie damals, 1968, als Jugendlicher, als die sowjetischen Panzer rollten. Doch das Gerüttel, das Geschepper, das Dröhnen und Rauschen war ihm neu und fremd. „Manchmal klang es, als würde jemand schießen.“An den Fassaden mancher Häuser sind tatsächlich Einschusslöcher zu erkennen. Pavel schüttelt den Kopf, immer und immer wieder: „Man soll so etwas ja nicht sagen, aber es war wirklich wie in einem Krieg.“
Ein bisschen weiter hinauf die Straße steht Jan, Mitte zwanzig. Geschlafen hat er noch nicht, er will weitermachen, bis es nicht mehr geht. Als er sich eine Zigarette anzünden will, zittern seine Hände derart, dass er ein paar Anläufe braucht, um das Feuerzeug am Tabak anzudocken. „Keine Ahnung, was jetzt werden soll, es ist alles kaputt. Tut mir leid, aber an mehr kann ich im Moment nicht denken.“Ob jemand, den er kenne, verletzt worden sei? Er nickt. „Aber alle sind am Leben.“Jan stützt sich auf seine Schaufel und blickt um sich. Überall ziegelrote Schutthalden. Viele Häuser seien schon alt gewesen. Hundert Jahre, vielleicht noch älter. Mit Betonung auf gewesen. Ob man sie noch retten kann? „Was weiß denn ich?“, zuckt Jan mit der Schulter.
Die Bevölkerung steht unter Schock, die Verarbeitung dessen, was sich zugetragen hat, hat noch nicht begonnen. Pavel blinzelt in den trüben Himmel: „Es ist schon wieder so heiß und drückend. Wie gestern.“Seine hagere Gestalt steht inmitten einer apokalyptisch anmutenden Szenerie, die unwahr wirkt, kulissenhaft. Die Frage nach dem Klimawandel muss sich Pavel noch gefallen lassen. „Ja, nein, vielleicht. Was bringt es mir, darüber nachzudenken? Wenn ich den Tornado hätte verhindern können, hätte ich es getan. Aber den Klimawandel bekämpfen können nur die da“, sagt er und zeigt nach oben. Die Politiker sind gemeint, nicht die Götter.
Moravská Nová Ves ist am Tag eins nach der Naturkatastrophe ein Trümmerfeld. Weder Strom noch Wasser fließen, wie Pavel sagt. Wie es weitergeht? „Aufräumen, schaufeln, Ziegel besorgen und das Dach decken.“Weiter in die Zukunft will er nicht schauen. Oben an der Kreuzung hat sich Jan auf das Fragment eines Baumstamms gesetzt. Vor ihm türmt sich ein Blechberg. Von der Größe her könnte es die Abdeckung eines Dachs gewesen sein. Das Metall wurde zusammengeknüllt wie ein Blatt Papier. „Langsam werde ich müde, aber ich will nicht schlafen“, sagt Jan. Keine Sorge, meint er, die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hielten ihn schon wach.