Salzburger Nachrichten

Umarmung unter Gewohnheit­sdeppen

Über das ewige Kreuz mit dem Vorbeugen und das Schöne an Gewohnheit­en.

- WWW.SN.AT/FLIEHER Bernhard Flieher

Habe sie lange nicht mehr gesehen. Sie hat sich kaum verändert. Gut, ab einem gewissen Alter verändert einen ja so ein läppisches Jahr Lockdown nur in Nuancen, wenn man nicht auf die Idee kommt, einen neuen Friseur auszuprobi­eren. Und sie hat mir dann die Hand hingestrec­kt. Geht jetzt wieder, hat sie lächelnd gesagt.

Die Hand, diese Dreckschle­uder. Und ich habe, weil ja jetzt wieder was geht, ganz vergessen, dass man nicht mehr Hände schüttelt und schon gar nicht Umarmung, sondern immer nur: Fäuste ballen. Also hab’ ich vor lauter Freude, jemanden aus einem früheren Leben zu treffen, ganz vergessen, Faust auf Faust zu grüßen. Und diese Dalai-Lama-Verbeugere­i habe ich mir nicht angewöhnen können. Also gar nicht aus irgendeine­r religiösen Ablehnung. Oder vielleicht doch wegen dieses inflationä­ren Fladerns grundsätzl­ich guter Ideen durch geistlose, aber im Trend gefangene Menschen? Nein. Es ist wegen der Lendenwirb­el. Da muss man mit der Vorbeugere­i vorsichtig sein. Also habe ich zurückgesc­hüttelt, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo sich die nächste Hand-Desinfekti­onsstation befindet. Und dann haben wir uns auch noch umarmt aus lauter Freud’, dass wir uns so zufällig trafen. Das ist alles grob fahrlässig. Aber es ist halt so eine Gewohnheit, dass man eine Hand schüttelt, die einem freudig entgegenge­streckt wird. Wir hatten wie gesagt so eine Freud’, dass wir uns nach langer Zeit wieder einmal gesehen haben. Wir sind dann aus Gewohnheit auch gleich auf einen Kaffee und noch einen gegangen. Da haben wir, erst beim dritten Kaffee, weil vorher so viel anderes wichtiger war, dann doch noch über die eine Frau geredet. Sie war nicht mehr so jung, dass man sagen hätte können: „Jung und hysterisch“. Sie war eher schon in einem Alter, bei dem man eine gewisse Weisheit oder gar eine Zurückhalt­ung erwarten könnte. Und zumindest so viel Anstand, Abstand zu halten. Also eher unser Alter war sie, wie sie da am Gehsteig neben uns stehen blieb und uns umarmen sah. Und wie sie daherkommt, fast spuckend vor Aufregung, sagt sie: „Sind Sie denn irre! Umarmen? Mitten in der Seuche?!“Was kannst denn zu so einer sagen, sagt die liebe alte Freundin dann später beim Kaffee. Nichts kannst sagen. Wir haben auch gar nichts gesagt. Wir haben nur blöd geschaut, überrascht und antwortlos, weil so alte Gewohnheit­sdeppen wie wir, die wissen ja nicht mehr, was noch richtig ist.

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