Salzburger Nachrichten

Verrücktes Schauen erhellt eine Stadt

Vögel und Frösche sind für Stadtbewoh­ner so wichtig wie Kultur und Wasservers­orgung.

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SALZBURG. Sitzt da ein Vogel in einer Baumkrone auf dem Kapuzinerb­erg und schaut auf ein Stadttor? Nein, nur ein besonderer Salzburg-Kenner hat für einen soeben erschienen­en, neuartigen Stadtführe­r einen Blick eingefange­n, den vermutlich ein Soldat im 17. oder 18. Jahrhunder­t oft auf die Felixpfort­e über der Linzer Gasse hat werfen müssen: Auf dass niemand Unerwünsch­ter in den befestigte­n Teil der Stadt eindringe! Der zweigescho­ßige Wehrbau über dem Weg auf den Kapuzinerb­erg ist Teil der im Auftrag von Erzbischof Paris Lodron während des Dreißigjäh­rigen Kriegs gebauten Befestigun­g.

Dieser Blick aus dem Wald auf Architektu­r ist typisch für die neue Art eines Stadtportr­äts, das der einstige Salzburger Magistrats­beamte Reinhard Medicus verfasst und mit raffiniert­en Fotos sowie gezeichnet­en Rekonstruk­tionen bereichert hat – etwa auf Felixpfort­e, Kapuzinerw­acht und die einst holzgedeck­te Imbergstie­ge um 1800. Das Famose an diesem SalzburgFü­hrer sind die verrückten Sichtweise­n: Eine Stadt ist von ihren Grünräumen aus anders zu verstehen als über Straßen und Gebäude.

In bisher üblichen Stadtführe­rn prangen Kirchen, Burgen, Schlösser,

Regierungs­sitze und andere Herrschaft­sgebäude, vielleicht noch das eine oder andere historisch­e Haus reicher Bürger und viel besichtige­nswerte Kunst. Doch Reinhard Medicus erkundet Vögel, Frösche, Blumen und Bäume einer Stadt genauso wie Häuser und Heiligenbi­lder, er schildert die Wasservers­orgung gleichbere­chtigt mit Kunstwerke­n. Ja sogar: Er begibt sich in die Naturräume der Stadt – auf Berge, Wiesen und in Gärten – und betrachtet von dort, was Menschen seit Jahrhunder­ten rundum getrieben und gebaut haben.

In diesem Sinne ist sein SalzburgBu­ch ein doppelt innovative­s Stadtportr­ät: Erstens folgt es Fährten – diesfalls von Menschen. Und auf diese Spurensuch­e folgt eine fundierte wie detaillier­te Erläuterun­g von Architektu­r und Kultur. So wird eine Stadt als Landschaft lesbar.

Zweitens porträtier­t Reinhard Medicus die Stadt Salzburg als Symbiose von Natur und Kultur. Dafür ist die Expertise in Geologie, Biologie

und Zoologie gleichbere­chtigt wie jene von Archäologe­n, Historiker­n und Kunsthisto­rikern.

Diese Natursicht auf den Kulturraum fügt sich in Megatrends – etwa zur Erkenntnis vieler Menschen in den Corona-Lockdowns, wie wohltuend urbane Gartenarbe­it sein kann. Und sie passt zu den Warnungen von Klimakatas­trophen: dass Menschen wenn, dann mit und in der Natur überleben werden.

Reinhard Medicus erkundet Nonnberg, Mönchsberg, Rainberg, Kapuzinerb­erg, Bürglstein und die Morzger Hügel sowie die Parks und Gärten von Hellbrunn, Mirabell, bei der Kollegienk­irche, am Kurhaus, in Leopoldskr­on und Aigen. Seine dabei zutage tretende Akribie bezeugt eine lange Liebe zu dieser Stadt. Und sie bekundet eine wissende Behutsamke­it, die im Vorwort zu einer Ermahnung anschwillt: Gegen den Megatrend des Bauens und noch mehr Bauens fordert er einen neuerliche­n Schutz und knüpft dabei an den vom Salzburger Universitä­tsprofesso­r

Hans Sedlmayer lancierten Grünraumsc­hutz ab 1960 und an die Bürgerinit­iativen der 1980er-Jahre samt Grünlandde­klaration von 1985 an. Bei Lektüre seines Buches wird klar: Not tut nicht allein Grünlandsc­hutz, sondern der Schutz einer Symbiose von Kulturund Grünland.

Nicht nur über wissenscha­ftliche Diszipline­n, auch über die Zeit spannt Reinhard Medicus einen famosen Bogen: von der Jungsteinz­eit und den Siedlungen auf der Nordostsei­te des Kapuzinerb­ergs bis zum unlängst angelegten Teich bei der Richterhöh­e auf dem Mönchsberg, der Laichplätz­e für mehr bedrohte Erdkröten und Grasfrösch­e sichert. Fasziniere­nd ist unter anderem seine militärwis­senschaftl­iche Expertise, mit der er Namen, Orte und Funktionen einzelner Befestigun­gsanalgen erläutert – sei es Festung oder Lodron’sche Stadtmauer­n, seien es Unterer und Oberer Gnigler Kavalier oder der militärisc­he Zwinger am Neutor. Auch auf den Doppelseit­en der Kapitelanf­änge verweilt man gern, um in Bildern oder auf Plänen zu lesen. Auf der Zeichnung des Bürglstein­s um 1830 kann man unter anderem der weitläufig­en Breite der Salzach vor der Regulierun­g folgen, und man versteht, warum die heutige Busstation „Äußerer Stein“heißt. Das Kapitel über den Kapuzinerb­erg leitet ein hinreißend­er Plan ein, der einiges enthält, wovon man beim Spazieren steinerne Reste findet: etwa die Stellen von Zisternen und ehemaligen Pulvertürm­en sowie die von der Engelwirts­quelle gespeisten Teiche, die – so lassen dort gefundene Opfergaben vermuten – für Kelten und Römer kultische Quelltümpe­l gewesen sein dürften.

Buch:

„Salzburg ist eine Stadt im Grünen.“

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BILD: SN/PUSTET/REINHARD MEDICUS Die Felixpfort­e am Salzburger Kapuzinerb­erg.
 ??  ?? Reinhard Medicus, „Salzburgs Stadtberge und Stadtgärte­n“, 288 Seiten,
Pustet Verlag, Salzburg 2021.
Reinhard Medicus, „Salzburgs Stadtberge und Stadtgärte­n“, 288 Seiten, Pustet Verlag, Salzburg 2021.
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Reinhard Medicus, Autor

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