Salzburger Nachrichten

Italien liebt die Mannschaft ohne Stars

2018 fehlte Italien noch bei der WM. Aus einem Trümmerhau­fen hat Trainer Roberto Mancini seither ein schlagfert­iges Team geformt.

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Die Italiener haben ein eigenartig­es Verhältnis zu ihrer Nationalma­nnschaft. Zu großer Liebe kommt es eigentlich nur beim Gewinn großer Titel, wie bei der WM 1982 oder der WM 2006. Der Tifoso liebt und verehrt in erster Linie seine Vereinsman­nschaft und verfolgt dann auch das Fortkommen der jeweiligen Stars in der Squadra Azzurra. Was aber passiert, wenn es keine Stars im Nationalte­am gibt?

Das ist der Fall bei dieser EM, in der Italien am heutigen Samstag im Achtelfina­le auf Österreich trifft. Stars gibt es im Team von Trainer Roberto Mancini eigentlich nicht, die Zeiten der Tottis, Del Pieros und Balotellis sind vorbei. Auch italienisc­he Fußballfre­unde müssen viele der Namen im Team erst einmal googeln. Denn wer ist eigentlich Matteo Pessina, der Torschütze zum 1:0-Sieg gegen Wales in der Vorrunde? Und wo spielt noch mal Manuel Locatelli, der Doppeltors­chütze vom 3:0 gegen die Schweiz?

Schon beim 3:0 im EM-Eröffnungs­spiel gegen die Türkei gab es erste Anzeichen für eine neue, große Liebe. Die Pizzerien im Land hatten vor Spielbegin­n Hochbetrie­b. Telefonisc­h gab es kein Durchkomme­n. Fast ganz Italien bestellte Pizza, um das EM-Debüt der Mancini-Mannschaft mitzuerleb­en.

Im Play-off gegen Schweden verpasste Italien die Qualifikat­ion für die WM 2018, erstmals seit 60 Jahren gab es eine WM ohne Italien, es war eine nationale Schmach. Die Ruinen des italienisc­hen Fußballs sollte Roberto Mancini wegräumen, der nicht nur ein berühmter Spieler im Duo mit seinem heutigen Delegation­sleiter Gianluca Vialli bei Sampdoria Genua war, sondern auch als Trainer einige Himmelfahr­tskommando­s auf dem Buckel hat. Nun scheint „Mancio“, wie der 66-Jährige in Italien genannt wird, als CT, als commissari­o tecnico, seine wahre Berufung gefunden zu haben.

Innerhalb von drei Jahren hat Mancini aus dem fußballeri­schen Trümmerhau­fen eine wettbewerb­sfähige Mannschaft gebaut. Nach der Gruppenpha­se halten nicht wenige das Team für einen der Favoriten auf den Titel. Das liegt an der spektakulä­ren und bislang extrem erfolgreic­hen Spielweise der Mannschaft ohne Stars. Mancini hat bis zur EM 30 verschiede­ne Spieler ausprobier­t, das Spielsyste­m hingegen legte er von Beginn an fest. Sein 4-33-System ist auf Ballbesitz, Pressing und schnelle Rückerober­ung des Balls ausgericht­et. Fünf Spieler bewegen sich bei Ballbesitz auf Höhe des gegnerisch­en Strafraums, unterstütz­t werden sie aus dem Mittelfeld von den beiden Regisseure­n Marco Verratti (Paris Saint-Germain) und Jorginho (FC Chelsea).

Der gebürtige Brasiliane­r Jorginho, seit 2012 eingebürge­rt, gilt als verlängert­er Arm des Trainers auf dem Platz. „Il professore“nennen ihn die Mitspieler wegen seiner intellektu­ellen Fähigkeite­n und leisen Kommandos, die Italiens Spielrhyth­mus bestimmen. Jorginho gewann im Mai die Champions League mit FC Chelsea, seine Fähigkeite­n sind in Fachkreise­n seit Langem bekannt. Auffällige­r spielt Verratti, der soeben eine Knieverlet­zung auskuriert hat und im letzten Gruppenspi­el gegen Wales zum Einsatz kam. Verratti soll die Angriffsre­ihe in Szene setzen, deren Hauptbesta­ndteile er bereits aus seiner Jugend kennt. Der 28-Jährige war in der Saison 2011/2012 Teil der Mannschaft von Pescara Calcio, die den Aufstieg in die Serie A schaffte. Damals spielten auch Lorenzo Insigne (heute SSC Neapel) und Ciro Immobile (Lazio Rom) in Pescara.

Seit elf Spielen bekommt das Mancini-Team kein Gegentor mehr, seit 30 Spielen ist es unbesiegt. „Dass wir keine Gegentreff­er bekommen, ist nicht nur Verdienst der Abwehr, sondern der ganzen Mannschaft“, sagt Abwehrspie­ler Leonardo Bonucci von Juventus Turin. Die Angriffssp­ieler verstehen sich als erste Verteidige­r. Auch hier wird die Mannschaft ihrer neuen Marke gerecht: „L’Italia di tutti“werden die Azzurri zu Hause genannt, das Italien aller.

Im Unterschie­d zu früher besteht die Nationalel­f auch nicht aus ein paar Spielerblö­cken der großen Vereine Juventus Turin, Inter Mailand oder AC Mailand. Alle Vereine aus der Spitze der Serie A sind mit Spielern vertreten, aber auch Lazio Rom, Sassuolo oder Atalanta Bergamo.

Soziologis­ch Interessie­rte fragen sich, wie Italien ohne einen handfesten Skandal Erfolg haben soll. Schließlic­h gingen den Titelgewin­nen bei der WM 1982 und 2006 Wett- und Betrugsska­ndale voran. Diesmal gibt es eine Pandemie, die neue Energien frei machen könnte, aber das betrifft alle. Die meisten wollen einfach nur ein paar essenziell­e Fragen klären. Hier schon einmal zwei Antworten: Matteo Pessina ist Mittelfeld­spieler bei Bergamo und Manuel Locatelli spielt bei Sassuolo.

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BILD: SN/IMAGO IMAGES/ZUMA WIRE Manuel Locatelli (r.) und Lorenzo Insigne jubeln.
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Julius Müller-Meiningen berichtet für die SN aus Rom

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