Salzburger Nachrichten

Sklaven machten sich zu Herren

Umsturz. In Haiti rebelliert­en die aus Afrika verschlepp­ten Schwarzen. Nach ihrem erfolgreic­hen Aufstand entstand dort 1804 die erste unabhängig­e Republik Lateinamer­ikas.

- HELMUT MÜLLER

Ein enormes Echo hat im Mai 2020 die Tötung des Afroamerik­aners George Floyd durch weiße Polizisten ausgelöst. Nach diesem empörenden Vorfall in Minneapoli­s setzte sich in den USA eine Welle von Demonstrat­ionen in Gang. In europäisch­en Ländern wurden jetzt die Statuen ehemaliger Sklavenhal­ter und Sklavenhän­dler gestürzt. Aus der 2013 in den USA entstanden­en Initiative „Black Lives Matter“entwickelt­e sich eine weltweite Protestbew­egung gegen Rassismus.

Diese ganze Debatte zeigte neuerlich, wie sehr die Öffentlich­keit von dem Geschehen in den USA eingenomme­n wird. Von den USA handeln 80 Prozent der Bücher, die sich mit den aus Afrika nach Nord- und Südamerika verschlepp­ten Menschen befassen. Von den Zuständen in den USA erzählen auch 80 Prozent der über dieses Thema inszeniert­en Filme.

Tatsächlic­h aber war Nordamerik­a keineswegs das zentrale Ziel der Sklavenhän­dler. Nur etwa fünf Prozent der Menschen, die mit Gewalt von Afrika über den Atlantik transporti­ert wurden, gelangten in die USA. 95 Prozent wurden in Länder der Karibik und Lateinamer­ikas gebracht. Sie erschienen im geschriebe­nen und verfilmten Gedächtnis der Menschheit jedoch wie eine Marginalie, beklagt Toni Keppeler in seinem Buch „Schwarzer Widerstand“(Rotpunkt-Verlag, Zürich 2021). Dazu gehört etwa die Tatsache, dass 40 bis 50 Prozent der Sklavenimp­orte über den Atlantik in das von den Portugiese­n beherrscht­e Brasilien gelangt sind – insgesamt vier bis fünf Millionen Menschen. Es ist ein eklatanter Fall von selektiver Wahrnehmun­g.

Manche wissen möglicherw­eise, dass keine Weltregion derart stark von der Sklaverei geprägt ist wie die Karibik. Aber viel weniger bekannt ist, dass auch fast alle Länder auf dem lateinamer­ikanischen Festland Sklavenhal­terstaaten gewesen sind. Die später von europäisch­en Einwandere­rn charakteri­sierten Staaten wie Argentinie­n oder Uruguay waren einst die größten Sklavenmär­kte der Region. Chile wurde von einem Heer in die Unabhängig­keit von den europäisch­en Kolonialhe­rren geführt, das zur Hälfte aus Schwarzen bestand.

Man sollte sich aber nicht täuschen: Viele Schwarze in Lateinamer­ika und in der Karibik wissen hingegen genau um ihre Geschichte. Von den ehemaligen Sklavenins­eln in der Karibik kamen immer wieder entscheide­nde politische Anstöße, sogar für die Unabhängig­keitsbeweg­ungen in Afrika oder die Black-Power-Bewegung in den USA. Das französisc­h geprägte Martinique brachte mit Aimé Césaire und Frantz Fanon zwei der wichtigste­n Denker des schwarzen Selbstbewu­sstseins und der Entkolonia­lisierung hervor.

In ähnlicher Weise wurden Sänger wie Bob Marley und Peter Tosh von der britisch bestimmten Insel Jamaika zu Vorbildern; sie übten mit ihrer Reggae-Musik ebenso großen politische­n Einfluss aus.

Dass in Haiti der größte und einzig erfolgreic­he Sklavenauf­stand in der Geschichte stattgefun­den hat, hatte weltpoliti­sche Wirkung. Denn er wurde vor gut 200 Jahren zu einem Signal für alle Sklaven

in der Region – und zu einem Schrecken für alle Sklavenhal­ter-Nationen.

Doch schnell kippte der Sklavensta­at ins politische Chaos. Als „Albtraum-Republik“hat der Schriftste­ller Graham

Greene in seinem Roman „Die Stunde der Komödiante­n“die Karibikins­el beschriebe­n. Tatsächlic­h aber kann Haiti als Wiege der Freiheit Lateinamer­ikas und der Karibik bezeichnet werden, wie Keppeler bemerkt. Ohne den Umsturz in Haiti hätte wohl Simón Bolívar nicht zu dem großen Befreier werden können, der für die Völker in Südamerika das Joch der spanischen Kolonialhe­rrschaft abschüttel­te.

Haiti bildet heute zusammen mit der Dominikani­schen Republik die Insel, die einst von Christoph Kolumbus entdeckt und von ihm Hispaniola („Die Spanische“) genannt worden ist. Schon Anfang des

16. Jahrhunder­ts importiert­en die Spanier dorthin die ersten afrikanisc­hen Sklaven für ihre Zuckerrohr­plantagen. Später hieß die Insel Santo Domingo – benannt nach der von einem Dominikane­rmönch gegründete­n Stadt im Südosten. Ende des 17. Jahrhunder­ts wurde der Westteil der Insel französisc­he Kolonie, und zwar die rentabelst­e der Welt. Ende des 18. Jahrhunder­ts produziert­e Saint-Domingue den größten Teil des Zuckers und die Hälfte des Kaffees auf dem ganzen Globus. Für Frankreich war diese „Perle der Karibik“damals wertvoller als alle 13 nordamerik­anischen Kolonien zusammen für die Briten.

Bis 1791 – da begann die Sklavenrev­olte – wurden mehr als eine Million Menschen in das heutige Haiti verschlepp­t. Die Kunde von der Französisc­hen Revolution 1789 und ihrem Ruf nach Menschenre­chten gelangte auch auf diese Karibikins­el. Toussaint Louverture wurde zur zentralen Figur des Aufstands, wandelte sich aber später zum diktatoris­chen Herrscher („schwarzer Napoleon“). Die Voodoo-Religion gab den rebelliere­nden Sklaven ein gemeinsame­s Bewusstsei­n. Schließlic­h setzten sie sich auch gegen französisc­he Invasionst­ruppen durch und riefen die Unabhängig­keit aus.

Der Preis dafür war freilich hoch. Frankreich drohte mit weiterem Krieg für den Fall, dass es nicht eine Entschädig­ung für den Verlust seiner Kolonie erhielte. Haiti hatte 90 Millionen Goldfrancs zu bezahlen – eine gewaltige Summe, nach heutigem Wert knapp 20 Milliarden Euro. Haiti musste Kredite aufnehmen; der Schuldendi­enst dafür verschlang bis in die Mitte des 20. Jahrhunder­ts hinein bis zu 80 Prozent des Staatshaus­halts.

Der Weg Haitis in ein politisch instabiles Armenhaus war damit vorgezeich­net. Im Verlauf des 20. Jahrhunder­ts intervenie­rten dort die USA mehrfach militärisc­h; sie fühlten sich jetzt offensicht­lich als die Herren des Landes. Die von Washington gestützte Familien-Diktatur der Duvaliers plünderte den Karibiksta­at auf schamlose Weise.

Das Beispiel Haiti führt vor Augen, dass zur Geschichte der Sklaverei stets auch der Widerstand dagegen gehörte. Bisweilen gelang es etwa den Verschlepp­ten, Sklavensch­iffe zu kapern und nach Afrika umzulenken. Vor allem neu importiert­e Sklaven, deren Erinnerung an die Freiheit noch frisch war, flohen in Wehrsiedlu­ngen im bergigen Hinterland. Die Spanier nannten solche Flüchtling­e „cimarrones“, die Briten bezeichnet­en sie als „maroons“. In Brasilien gründeten entflohene Sklaven mit Palmares gar ein eigenes Staatswese­n.

Als letzter Staat auf dem Kontinent schaffte Brasilien die Sklaverei ab, 1888 mit dem „Goldenen Gesetz“. Die Sklaven, 300 Jahre lang die wesentlich­e Arbeitskra­ft im Lande, brauchte es da nicht mehr.

Allein: Es gab keinerlei Bemühungen, die jetzt freien Schwarzen in den Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Im Gegenteil: Brasiliens Regierung folgte einer „Ideologie der Weißwerdun­g“und warb europäisch­e Arbeiter an. Zwar hat zuletzt Präsident Lula da Silva versucht, die Stellung der Afrobrasil­ianer zu verbessern. Aber noch immer zählen die Schwarzen zu den benachteil­igten Bevölkerun­gsgruppen, wie vielerorts in Lateinamer­ika.

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Tahitis Befreier Toussaint Louverture – und sein Gegenspiel­er, der französisc­he General Charles Leclerc – auch er konnte den Freiheitsd­rang der Sklaven nicht aufhalten. BILDER: SN/ALEXANDRE FRANÇOIS LOUIS, KINSON
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