Der Mythos (k)lebt
Pünktlich zur Fußball-EM gibt es ein neues Panini-Kicker-Album. Erfunden vor 60 Jahren in Modena, wird es bis heute in der farbenfrohen norditalienischen Stadt produziert.
Kopfsteinpflaster, ein schmachtendes Eros-Ramazzotti-Double vorm Uhrenturm, entspannte Zuhörer auf der Terrasse der Bar Concerto: Die Piazza Grande ist Modenas Wohnzimmer. Die Flaneure werden scheinbar am zu groß geratenen Dom von zwei wuchtigen Steinlöwen belauert, die den Seiteneingang bewachen. Auf der Treppe jedoch kauern zwei Jungs, gar nicht entspannt. Lautstark fuchteln sie mit aufgefächerten Kärtchen herum: „Nicht mal gegen Ronaldo, Kimmich und Haaland zusammen tausche ich den“, wettert der kleinere, schwarz gelockte und rückt seinen Kicker auf einem glitzernden Bild nicht raus. Denn diese „Glitzis“zählten zu meistgesuchten Sammelbildern fürs PaniniWM-Album vor drei Jahren. Nun haben beide Jungs das Sammelheft fürs laufende EURO-Turnier auf den Knien, reißen voller Hoffnung auf fehlende Kicker weitere Tüten auf, eben erstanden für einen Euro pro Stück im Kiosk um die Ecke – dort, wo die Panini-Story einst begann.
Mama Olga, Kriegswitwe mit acht Kindern, verkauft hier ab 1946 Zeitungen und Zeitschriften. Ein karges Einkommen. Sohn Giuseppe, der älteste, schon früher als talentierter Süßigkeiten-Verkäufer aufgefallen, hat mit seinen Brüdern Benito, Umberto und Franco eine clevere Altpapier-Geschäftsidee: Man nehme Zeitungen und Zeitschriften der Vorwochen, dazu einen Luftballon und „Figurine“– Sammelbilder, die damals den Zigarettenpackungen beiliegen. Alles zusammen in einen Papierumschlag, zukleben und als „Wundertüte“anbieten. Die kommen gut an bei den Kiosk-Kunden, besonders die „Figurine“. Also setzen die Panini-Brüder auf reine Bildertüten mit Pflanzenmotiven drin. Ein Flop. Aber dann: Italienische Fußballer sind ab 1961 – vor genau 60 Jahren – Paninis erster SammelbildRenner, beginnend mit Bruno Bolchi, dem Kapitän von Inter Mailand.
Er prangt heute, leicht vergilbt, in Modenas „Museo della Figurina“. Von den Panini-Brüdern gegründet, zeigt es bei freiem Eintritt die Geschichte der Sammelbilder, beginnend um 1870 im Pariser Kaufhaus „Au Bon Marché“, wo durch kostenlose, bunte Kärtchen Kinder ihre Mütter zu weiteren Einkaufsbesuchen drängten. Paninis Erfolgsstory präsentiert das Museum erfreulich bescheiden: Die etwa 600 Millionen Euro Jahresumsatz in 110 Ländern stehen nirgendwo, zu sehen ist aber, womit sie erreicht werden: Auf Fußballer folgen Alben mit Flugzeugen und Raketen, Comic-Helden, Pop-Ikonen, TV-Stars von Heidi bis Hannah Montana. Ein Hingucker auch die Weiterentwicklung der Bilder: Zuerst noch schwarz-weiß und mit Fotoecken bestückt, bald schon nachkoloriert, in den Siebzigern dann farbige, selbstklebende und heute schließlich Glitzer-Sticker mit 3D-Effekt. Objekte der Begierde von Heerscharen an Klebern und Sammlern weltweit: Angeblich interessiert sich jeder Dritte zwischen sechs und zehn Jahren, jeder Vierte über 25 dafür.
Panini ist längst Gattungsbegriff wie Tixo oder Tempo, aber ohne jede Huldigung in Modena. Keine Panini-Straße, kein Platz, kein Denkmal. Nur ein Hinweis auf die nächsten Spiele der hiesigen Volleyballer – im Panini-Sportpalast, benannt zu Ehren von Giuseppe, begeistertem Spieler und Sponsor des Erfolgsclubs, sagt ein Plakat an der Via Emilia. Zufall? Genau hier kippte Umberto Panini einmal ein dreirädriger Kleinlaster voller Panini-Bilder um, alle Tüten vom Winde verweht über die alte römische Handelsstraße, die sich schnurgerade durch Modenas Zentrum zieht. Schmalere Gassen gruppieren sich drumherum wie Schichten einer Zwiebel. Das erspart den Stadtplan. Egal ob man sich im Gourmet-Imbiss „Giusti“mit Feinkosttheke stärkt, an der Gelateria „Bloom“am Eis schleckt oder bei „La Vacchetta Grassa“Lederduft inhaliert – früher oder später steht man beim Modena-Stadtbummel auf einer „Ach-da-sindwir“-Kreuzung und weiß wieder, wo man ist.
Modenas Altstadtfassaden strahlen in vielen leuchtenden Pastell-Variationen, die schönste davon ist Paninis erster Firmensitz in der Via Castel Maraldo. Dort war in den frühen Sechzigern noch alles pure Handarbeit: Im Keller werfen Giuseppe, Franco und Benito die Bilder mit Schaufeln durcheinander und mischen sie per Handkurbel in einem Butterfass so lange, bis sicher schien, dass keines doppelt in eine Tüte kommt. Auf Dauer zu mühselig, darum rufen sie Umberto aus Venezuela zurück. Der Tüftler soll eine Misch-, Sortier- und Verpackungsmaschine für die Bilder erfinden. Seine „Fifimatic“ist bis heute in Betrieb, in der 1965 gebauten Panini-Fabrik außerhalb der Altstadt. Ein schmuckloses Gebäude, nichts deutet darauf hin, dass hier in EM-Jahren täglich mehr als 60 Millionen Sticker produziert und von Lkw in die Welt hinaus transportiert werden.
Nach dem Verkauf der Firma 1988 investieren die Panini-Brüder in andere Geschäftsfelder. Umberto kauft eine Farm, nennt sie „Hombre“und macht Bioparmesan, heute geführt von Sohn Matteo. Ein Besuch dort – 15 Autominuten außerhalb Modenas – lohnt sich, auch wegen der Maserati-Oldtimer-Sammlung, der größten Italiens. Matteo zeigt sie und die Käseherstellung gern, erzählt dabei über seine Zeit als Sohn im Sammelbilder-Imperium: „Viele wollten in den Siebzigern meine Freunde sein, weil sie wussten, ich kann ihnen das Sticker-Album sofort voll machen.“Apropos: Warum sind eigentlich manche Kicker so selten in der Tüte? Laut Matteo purer Zufall: „Wir haben wirklich nie Bilder zurückgehalten.“Man könne ja die fehlenden ganz einfach bei Panini bestellen. Übrigens hätten manche Kicker viel größere Probleme als die Sammler, sagt Matteo und schmunzelt. Ein Platz im Album steigert Börsenwert und Selbstwertgefühl. Und wer nicht drin ist, beklagt sich schon mal bei Panini. Italiens Alessandro Del Piero etwa habe ihn deswegen einmal angerufen – lange bevor der italienische Stürmer 2006 Weltmeister wurde.