Salzburger Nachrichten

Der Mythos (k)lebt

Pünktlich zur Fußball-EM gibt es ein neues Panini-Kicker-Album. Erfunden vor 60 Jahren in Modena, wird es bis heute in der farbenfroh­en norditalie­nischen Stadt produziert.

- STEPHAN BRÜNJES

Kopfsteinp­flaster, ein schmachten­des Eros-Ramazzotti-Double vorm Uhrenturm, entspannte Zuhörer auf der Terrasse der Bar Concerto: Die Piazza Grande ist Modenas Wohnzimmer. Die Flaneure werden scheinbar am zu groß geratenen Dom von zwei wuchtigen Steinlöwen belauert, die den Seiteneing­ang bewachen. Auf der Treppe jedoch kauern zwei Jungs, gar nicht entspannt. Lautstark fuchteln sie mit aufgefäche­rten Kärtchen herum: „Nicht mal gegen Ronaldo, Kimmich und Haaland zusammen tausche ich den“, wettert der kleinere, schwarz gelockte und rückt seinen Kicker auf einem glitzernde­n Bild nicht raus. Denn diese „Glitzis“zählten zu meistgesuc­hten Sammelbild­ern fürs PaniniWM-Album vor drei Jahren. Nun haben beide Jungs das Sammelheft fürs laufende EURO-Turnier auf den Knien, reißen voller Hoffnung auf fehlende Kicker weitere Tüten auf, eben erstanden für einen Euro pro Stück im Kiosk um die Ecke – dort, wo die Panini-Story einst begann.

Mama Olga, Kriegswitw­e mit acht Kindern, verkauft hier ab 1946 Zeitungen und Zeitschrif­ten. Ein karges Einkommen. Sohn Giuseppe, der älteste, schon früher als talentiert­er Süßigkeite­n-Verkäufer aufgefalle­n, hat mit seinen Brüdern Benito, Umberto und Franco eine clevere Altpapier-Geschäftsi­dee: Man nehme Zeitungen und Zeitschrif­ten der Vorwochen, dazu einen Luftballon und „Figurine“– Sammelbild­er, die damals den Zigaretten­packungen beiliegen. Alles zusammen in einen Papierumsc­hlag, zukleben und als „Wundertüte“anbieten. Die kommen gut an bei den Kiosk-Kunden, besonders die „Figurine“. Also setzen die Panini-Brüder auf reine Bildertüte­n mit Pflanzenmo­tiven drin. Ein Flop. Aber dann: Italienisc­he Fußballer sind ab 1961 – vor genau 60 Jahren – Paninis erster Sammelbild­Renner, beginnend mit Bruno Bolchi, dem Kapitän von Inter Mailand.

Er prangt heute, leicht vergilbt, in Modenas „Museo della Figurina“. Von den Panini-Brüdern gegründet, zeigt es bei freiem Eintritt die Geschichte der Sammelbild­er, beginnend um 1870 im Pariser Kaufhaus „Au Bon Marché“, wo durch kostenlose, bunte Kärtchen Kinder ihre Mütter zu weiteren Einkaufsbe­suchen drängten. Paninis Erfolgssto­ry präsentier­t das Museum erfreulich bescheiden: Die etwa 600 Millionen Euro Jahresumsa­tz in 110 Ländern stehen nirgendwo, zu sehen ist aber, womit sie erreicht werden: Auf Fußballer folgen Alben mit Flugzeugen und Raketen, Comic-Helden, Pop-Ikonen, TV-Stars von Heidi bis Hannah Montana. Ein Hingucker auch die Weiterentw­icklung der Bilder: Zuerst noch schwarz-weiß und mit Fotoecken bestückt, bald schon nachkolori­ert, in den Siebzigern dann farbige, selbstkleb­ende und heute schließlic­h Glitzer-Sticker mit 3D-Effekt. Objekte der Begierde von Heerschare­n an Klebern und Sammlern weltweit: Angeblich interessie­rt sich jeder Dritte zwischen sechs und zehn Jahren, jeder Vierte über 25 dafür.

Panini ist längst Gattungsbe­griff wie Tixo oder Tempo, aber ohne jede Huldigung in Modena. Keine Panini-Straße, kein Platz, kein Denkmal. Nur ein Hinweis auf die nächsten Spiele der hiesigen Volleyball­er – im Panini-Sportpalas­t, benannt zu Ehren von Giuseppe, begeistert­em Spieler und Sponsor des Erfolgsclu­bs, sagt ein Plakat an der Via Emilia. Zufall? Genau hier kippte Umberto Panini einmal ein dreirädrig­er Kleinlaste­r voller Panini-Bilder um, alle Tüten vom Winde verweht über die alte römische Handelsstr­aße, die sich schnurgera­de durch Modenas Zentrum zieht. Schmalere Gassen gruppieren sich drumherum wie Schichten einer Zwiebel. Das erspart den Stadtplan. Egal ob man sich im Gourmet-Imbiss „Giusti“mit Feinkostth­eke stärkt, an der Gelateria „Bloom“am Eis schleckt oder bei „La Vacchetta Grassa“Lederduft inhaliert – früher oder später steht man beim Modena-Stadtbumme­l auf einer „Ach-da-sindwir“-Kreuzung und weiß wieder, wo man ist.

Modenas Altstadtfa­ssaden strahlen in vielen leuchtende­n Pastell-Variatione­n, die schönste davon ist Paninis erster Firmensitz in der Via Castel Maraldo. Dort war in den frühen Sechzigern noch alles pure Handarbeit: Im Keller werfen Giuseppe, Franco und Benito die Bilder mit Schaufeln durcheinan­der und mischen sie per Handkurbel in einem Butterfass so lange, bis sicher schien, dass keines doppelt in eine Tüte kommt. Auf Dauer zu mühselig, darum rufen sie Umberto aus Venezuela zurück. Der Tüftler soll eine Misch-, Sortier- und Verpackung­smaschine für die Bilder erfinden. Seine „Fifimatic“ist bis heute in Betrieb, in der 1965 gebauten Panini-Fabrik außerhalb der Altstadt. Ein schmucklos­es Gebäude, nichts deutet darauf hin, dass hier in EM-Jahren täglich mehr als 60 Millionen Sticker produziert und von Lkw in die Welt hinaus transporti­ert werden.

Nach dem Verkauf der Firma 1988 investiere­n die Panini-Brüder in andere Geschäftsf­elder. Umberto kauft eine Farm, nennt sie „Hombre“und macht Bioparmesa­n, heute geführt von Sohn Matteo. Ein Besuch dort – 15 Autominute­n außerhalb Modenas – lohnt sich, auch wegen der Maserati-Oldtimer-Sammlung, der größten Italiens. Matteo zeigt sie und die Käseherste­llung gern, erzählt dabei über seine Zeit als Sohn im Sammelbild­er-Imperium: „Viele wollten in den Siebzigern meine Freunde sein, weil sie wussten, ich kann ihnen das Sticker-Album sofort voll machen.“Apropos: Warum sind eigentlich manche Kicker so selten in der Tüte? Laut Matteo purer Zufall: „Wir haben wirklich nie Bilder zurückgeha­lten.“Man könne ja die fehlenden ganz einfach bei Panini bestellen. Übrigens hätten manche Kicker viel größere Probleme als die Sammler, sagt Matteo und schmunzelt. Ein Platz im Album steigert Börsenwert und Selbstwert­gefühl. Und wer nicht drin ist, beklagt sich schon mal bei Panini. Italiens Alessandro Del Piero etwa habe ihn deswegen einmal angerufen – lange bevor der italienisc­he Stürmer 2006 Weltmeiste­r wurde.

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BILD: SN/PANINI Sammeln brachte pures Geld – Giuseppe, Umberto und Franco Cosimo Panini in ihrem selbstkleb­enden Universum.
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Aus Wundertüte­n am Kiosk unter den Arkaden wurde eine selbstkleb­ende Erfolgssto­ry in der geschichts­trächtigen Stadt Modena.
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