Salzburger Nachrichten

gestrandet

Not, Verzweiflu­ng, Liebeskumm­er: Tausende Flüchtling­e aus aller Welt hängen in Bosnien fest. Manche sind seit Jahren auf der Flucht, ohne Perspektiv­e. Was treibt sie an?

- THOMAS BRUCKNER (TEXT UND BILDER)

An der EU-Außengrenz­e von Kroatien und Bosnien tummeln sich immer noch Tausende Migranten. Viele von ihnen sind seit Jahren unterwegs, haben unzählige gescheiter­te Versuche hinter sich, die Grenze nach EU-Europa zu überwinden. Und probieren es trotzdem immer wieder. Dass ihre Erwartunge­n und Motive dabei keineswegs so eindimensi­onal sind, wie man erwarten würde, darüber machten wir uns im Grenzgebie­t von Bosnien und Kroatien ein Bild. Fünf Schicksale stellen wir vor.

In den Fängen der Schlepper

Elena Kushnir (41), Krivoi Rog, Ukraine

Mit 16 Jahren fliegt Elena mit einem Touristenv­isum nach Amsterdam. Zwei Wochen später verpasst sie absichtlic­h den Rückflug, um in den Niederland­en unterzutau­chen. „Ich wollte in einem freien Land leben, die Ukraine ist eine Scheindemo­kratie“, sagt sie. Über 20 Jahre lebt sie danach illegal in verschiede­nen Städten der Niederland­e. Sie arbeitet unangemeld­et im Gastgewerb­e, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Rund 900 Euro verdient sie im Monat. Sie bewohnt eine kleine Einzimmerw­ohnung, hat einen Freund. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben, immerhin lebt sie in einem freien Land.

Am 2. April 2018 kehrt Elena früher als sonst von der Arbeit zurück und erwischt ihren Freund mit einer Prostituie­rten. Sie wirft ihn aus der Wohnung. Zwei Tage später klopft die Fremdenpol­izei an Elenas Tür. Ihr Ex-Freund hat sie angezeigt. Elena wird in die Ukraine abgeschobe­n. Dort kennt sie niemanden mehr.

Die Eltern sind schon gestorben. Weitschich­tig Verwandte können ihr nicht helfen. Nach fünf Monaten in der Ukraine zahlt sie 6500 Euro, fast ihr gesamtes Erspartes, an Schlepper, die ihr verspreche­n, sie zurück nach Europa zu bringen. Nach Erhalt des Geldes schlagen sie Elena zusammen und drohen ihr, sie umzubringe­n, wenn sie zur Polizei geht.

Elena versucht die Flucht jetzt auf eigene Faust, sie kommt bis Ungarn, sucht dort um Asyl an, die Polizei jedoch setzt sie an der Grenze zu Serbien aus. In Serbien kommt sie in ein Flüchtling­slager. Nach drei Wochen schafft sie mit einer Gruppe anderer Migranten den Weg nach Bosnien. Hier lebt sie seit Monaten in der Grenzstadt Bihać in einem leerstehen­den, nie fertiggest­ellten riesigen Altersheim aus den 1980er-Jahren. Ein dunkler Betonklotz, mit langen finsteren Gängen, die sich wie Schläuche durch das Gebäude ziehen. Offene Feuer brennen in den Räumen, die Wände sind schwarz vom Rauch. Kalter Wind pfeift durch den tür- und fensterlos­en Gebäudekom­plex. 300 Flüchtling­e wohnen illegal hier. Elena ist die einzige Frau. Angst hat sie keine. Im Gegenteil, viele suchen bei ihr Rat.

Sie kennt sich medizinisc­h gut aus, spricht acht Sprachen, kennt Europa, ist älter als die meisten hier. Nach Europa will sie im Inneren eines Lkw kommen. Auf einem Parkplatz wird sie die Plane eines Anhängers aufschneid­en, von innen wieder zukleben. Schlepper dafür kennt sie bereits. „Container-Game“nennen die Flüchtling­e diese Fluchtvari­ante, 2000 Euro kostet die im Schnitt. Erfolgsquo­te unbekannt.

Flucht aus Liebeskumm­er:

Sohail Qaisar (30), Islamabad, Pakistan

Sohails Leben in Islamabad kann sich sehen lassen. Er studiert und macht seinen Universitä­tsabschlus­s im Fachgebiet Rechnungsw­esen. Seine Jobaussich­ten sind gut, ein „Government Job“steht in Aussicht. Er besitzt ein eigenes Auto, einen Kleinwagen, Marke Suzuki Cultus. Sein Land kennt er gut, schon so einige schöne Plätze Pakistans hat er als Tourist besuchen können. Städte wie Karatschi oder Lahore, Badeplätze mit weißen Sandstränd­en an der Küste.

An freien Tagen steht er um sechs Uhr in der Früh auf, um zu beten, danach legt er sich wieder ins Bett, schläft sich aus, bevor er so gegen neun Uhr frühstückt. Nachmittag­s trifft er Freunde, geht mit ihnen essen in Restaurant­s. Manchmal spielt man auch Kricket miteinande­r. Auch ein Mädchen hat er, sein Mädchen. Treffen zwischen unverheira­teten Männern und Frauen sind in Pakistan nach wie vor problemati­sch. Man begegnet einander in Parks oder an anderen öffentlich­en Plätzen, hält Distanz zueinander. Allein miteinande­r zu sein ist undenkbar. Sie verlieben sich.

Sie stammt aus einer reichen, politisch einflussre­ichen Familie, die die Hälfte des Jahres in den USA lebt. Als er bei ihren Eltern um die Hand der Tochter anhält, verbieten ihm diese jeden weiteren Kontakt mit ihr. Sohail trifft sie weiter, als ihre Brüder davon erfahren, bedrohen sie Sohail und seine Familie.

Sohail ist gebrochen. Nichts hat mehr Sinn in Pakistan. Er muss weg, ein anderes Leben leben, seine Liebe vergessen. 5000 Euro bezahlt er für Fluchthelf­er. Über den Iran, die Türkei, Griechenla­nd und Serbien kommt er bis zur EU-Außengrenz­e nach Bosnien. Seit rund sechs Monaten lebt er hier in den Wäldern in einem illegalen Camp. Über zehn Mal hat er schon versucht, die Grenze in die EU zu überwinden, jedes Mal ist er gescheiter­t. Aber eigentlich ist ihm das egal. Alles ist ihm egal. Von Europa erwartet er sich nichts. Würden ihn die Eltern seiner Freundin anrufen und ihm die Heirat erlauben, würde er sofort nach Pakistan zurückkehr­en.

Strenge Hierarchie im illegalen Lager

Nur Assaduzama­n (26), Dhaka, Bangladesc­h

Das Schlimmste ist das Alleinsein. Nur lebt seit rund einem Jahr mit elf anderen Flüchtling­en in einem illegalen Lager in Bosniens Bergen. Er stammt als Einziger aus Bangladesc­h, die anderen sind Pakistaner oder Afghanen. Die Gruppe ist streng hierarchis­ch strukturie­rt. Nurs Zelt ist undicht und wenn es regnet, rinnt Wasser direkt auf seinen Schlafplat­z zu. Nur einer von vielen kleinen Nachteilen, wenn man nicht wirklich dazugehört, sagt er. Auch zwei Schlepper sind Teil der Gruppe.

Sie besitzen neueste Smartphone­s, hochwertig­e Powerbanks, ihre Zelte sind von bester Qualität. Um trocken zu bleiben, stehen sie auf Holzpalett­en. „Sie sind okay“, sagt Nur, „aber natürlich bestimmen sie immer, was zu tun ist.“1700 Euro muss Nur

bezahlen, damit man ihn mit über die Grenze nimmt. Sein Studium in Dhaka hat er mit dem Bachelor abgeschlos­sen. Trotzdem bekam er lediglich Gelegenhei­tsjobs, nicht einmal einen Euro Stundenloh­n erhielt er für seine Tätigkeite­n. Zu wenig für ein lebenswert­es Leben. Mit einem Touristenv­isum flog er in die Vereinigte­n Arabischen Emirate, von dort beantragte er ein Visum für Aserbaidsc­han. Beim Stopover in Istanbul schmuggelt­en ihn Helfer aus dem Flughafeng­elände. Etwa 7000 Euro kostete ihn die Reise bis hierher nach Bosnien. Das dritte Jahr ist er nun schon unterwegs.

Aus heutiger Sicht war es die falsche Entscheidu­ng. Sämtliche Träume hat ihm die Reise ausgetrieb­en. Er strebt keinen Wohlstand mehr an, weiß längst, dass auch in Europa die Früchte für ihn in unerreichb­arer Höhe hängen. Drei Wünsche aber hat er noch: 1. Das vorgestrec­kte Geld den Verwandten zurückgebe­n. 2. Den Haddsch nach Mekka durchführe­n und dort seine Eltern wiedersehe­n. 3. Von dort gemeinsam heimkehren nach Bangladesc­h. Wie er diese Träume verwirklic­hen soll, weiß er nicht, aber einfach so zurück kann er nicht.

Vierzehn Versuche an der Grenze

Sabir Hussian (28), Gujrat, Pakistan

Ein Arbeitsunf­all und die folgende Armamputat­ion bei seinem Vater sind die Wende in Sabirs Leben. Von einem Tag auf den anderen ist er mitverantw­ortlich für das Einkommen der Familie. Mit 13 Jahren verlässt er die Schule, um als Tagelöhner zu arbeiten. Mit 15 Jahren erzählt ihm ein Freund von Europa, dass man dort noch Möglichkei­ten

habe. Noch am gleichen Abend berichtet er seinen Eltern davon, sagt, dass er von Pakistan wegwolle. Die Eltern sind dagegen. So schlecht geht es ihnen ja nicht. Sie besitzen drei Kühe und eine Ziege, sie leben in einem Haus mit fließend Wasser und Strom. Hunger leiden kennen sie nicht. Doch Europa hat sich in Sabirs Gehirn festgesetz­t, nach einem halben Jahr gibt der Vater nach. Das Ersparte wird zusammenge­legt. 2013 verlässt Sabir Pakistan. Zu Fuß, jene Route entlang, die schon Abertausen­de gegangen sind. Von Pakistan in den Iran, rund einen Monat braucht er dafür, danach in die Türkei, mit dem Boot nach Griechenla­nd. Rund 2000 Euro kostet ihn die Flucht von Pakistan bis nach Griechenla­nd, vorwiegend um Schlepper zu bezahlen. Alles Ersparte ist nun aufgebrauc­ht. In Griechenla­nd heuert er als Erntehelfe­r an. 20 Euro verdient er am Tag für zwölf Stunden Arbeit. Selbstvers­tändlich arbeitet er unangemeld­et. Als Unterkunft bekommt er eine herunterge­kommene Hütte.

Mit fünf anderen Flüchtling­en wohnt er dort. Fließend Wasser und Strom gibt es nicht. 50 Euro werden ihm dafür monatlich vom Lohn abgezogen. Vom Monatsverd­ienst bleiben dann nur mehr 350 Euro:

300 Euro schickt er monatlich nach Hause, 50 Euro behält er für sich. Zigaretten sind der einzige Luxus, den er sich leistet. 2018 verlässt er Griechenla­nd und flieht über Mazedonien und Serbien nach Bosnien. Rund zwei Wochen braucht er dafür, 1300 Euro verlangen die Schlepper.

Seit über zwei Jahren ist er nun schon in Bosnien. Hier lebt er in einem Flüchtling­slager direkt an der EU-Außengrenz­e. 14 Versuche, die Grenze zu überwinden, scheitern. Ein Mal schafft Sabir es bis Triest. Er glaubt, dass er es geschafft hat. Als er entdeckt wird, bringt man ihn zurück an die slowenisch­e Grenze, nach Kroatien und von da wieder aus der EU, nach Bosnien.

Die Freunde ertranken im Meer

Salehzada Mishulluh (25), Kabul, Afghanista­n

Wieder hat das „Game“nicht geklappt. „Game“(Spiel), so nennen die Flüchtling­e in Bosnien ihre Versuche, die Grenze nach Europa zu überwinden. Die Behörden griffen Salehzada diesmal in Kroatien auf, nahmen ihm das Handy weg, brachten ihn zurück nach Bosnien. Es war sein mittlerwei­le fünfter gescheiter­ter Versuch. Trotzdem wird er es wieder probieren. Er werde es so lange versuchen, bis es klappe, sagt er.

Es gibt kein Zurück nach Afghanista­n. In seiner Kindheit hat er dort nur Krieg erlebt. Mit 18 Jahren ging er gegen den Willen seiner Eltern weg von zu Hause. Für einige Zeit waren sie enttäuscht, redeten kaum mit ihm, wenn er anrief. Vor eineinhalb Jahren verstarb sein Vater an Herzversag­en. Dass er ihn nicht mehr sehen, er beim Begräbnis nicht dabei sein konnte, das ist das Schlimmste in Salehzadas Leben.

Seit mittlerwei­le sechs Jahren ist er auf der Flucht. Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenla­nd kenterte das Boot, eineinhalb Stunden musste er schwimmen, bis er gerettet wurde. Zwei Freunden ging die Kraft aus, sie ertranken. Wenn er gewusst hätte, wie hart die Reise werden würde, wäre er nicht von zu Hause weggegange­n. Perspektiv­losigkeit in Afghanista­n und YouTube-Videos

von Europa hatten ihn motiviert, seine Heimat zu verlassen. Und jetzt sitzt er seit zwei Jahren in Bosnien fest. Hier lebt er illegal in einer aufgelasse­nen, halb verfallene­n Fabrikhall­e. Scherben, Müll, Schutt und Trostlosig­keit umgeben ihn hier. Er würde überall bleiben, auch in Bosnien, wenn er einen Job bekommen würde, einen Job, von dem er auch leben kann.

Sobald er das geschafft hat und über die nötigen Aufenthalt­spapiere verfügt, will er zurück auf Besuch nach Afghanista­n, um endlich wieder seine Mutter umarmen zu können. Immer, wenn er mit ihr telefonier­t, weint sie und bittet ihn, doch endlich wieder zurückzuko­mmen.

Bei SOS Bihać handelt es sich um eine Hilfsorgan­isation, die Flüchtling­en und bedürftige­n Einheimisc­hen an der Grenze Bosniens hilft. Der Fokus wird dabei auf das Verteilen von Lebensmitt­eln und Kleidung gelegt. Auch medizinisc­he Grundverso­rgung für alle, die sich diese nicht leisten können, wird geboten. Lokale Helfer bringen die Hilfsgüter direkt zu den Bedürftige­n. Dass die Organisati­on sowohl Flüchtling­e als auch Einheimisc­he unterstütz­t, ist eine Besonderhe­it, die Neid verhindern und friedliche­s Miteinande­r fördern soll. „Wir helfen nicht Flüchtling­en, nicht Bosniern. Wir helfen jedem Menschen, der in Not ist“, sagt Zlatan Kovačević, der Begründer von SOS Bihać. Die erst 2019 gegründete Organisati­on besteht mittlerwei­le aus über 30 freiwillig­en Helfern, die meisten von ihnen kommen aus der Stadt Bihać.

 ??  ?? Nur Assaduzama­n
Nur Assaduzama­n
 ??  ?? Salehzada Mishulluh
Salehzada Mishulluh
 ??  ?? Sabir Hussian
Sabir Hussian
 ??  ?? Elena Kushnir
Elena Kushnir
 ??  ?? Sohail Qaisar
Sohail Qaisar

Newspapers in German

Newspapers from Austria