gestrandet
Not, Verzweiflung, Liebeskummer: Tausende Flüchtlinge aus aller Welt hängen in Bosnien fest. Manche sind seit Jahren auf der Flucht, ohne Perspektive. Was treibt sie an?
An der EU-Außengrenze von Kroatien und Bosnien tummeln sich immer noch Tausende Migranten. Viele von ihnen sind seit Jahren unterwegs, haben unzählige gescheiterte Versuche hinter sich, die Grenze nach EU-Europa zu überwinden. Und probieren es trotzdem immer wieder. Dass ihre Erwartungen und Motive dabei keineswegs so eindimensional sind, wie man erwarten würde, darüber machten wir uns im Grenzgebiet von Bosnien und Kroatien ein Bild. Fünf Schicksale stellen wir vor.
In den Fängen der Schlepper
Elena Kushnir (41), Krivoi Rog, Ukraine
Mit 16 Jahren fliegt Elena mit einem Touristenvisum nach Amsterdam. Zwei Wochen später verpasst sie absichtlich den Rückflug, um in den Niederlanden unterzutauchen. „Ich wollte in einem freien Land leben, die Ukraine ist eine Scheindemokratie“, sagt sie. Über 20 Jahre lebt sie danach illegal in verschiedenen Städten der Niederlande. Sie arbeitet unangemeldet im Gastgewerbe, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Rund 900 Euro verdient sie im Monat. Sie bewohnt eine kleine Einzimmerwohnung, hat einen Freund. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben, immerhin lebt sie in einem freien Land.
Am 2. April 2018 kehrt Elena früher als sonst von der Arbeit zurück und erwischt ihren Freund mit einer Prostituierten. Sie wirft ihn aus der Wohnung. Zwei Tage später klopft die Fremdenpolizei an Elenas Tür. Ihr Ex-Freund hat sie angezeigt. Elena wird in die Ukraine abgeschoben. Dort kennt sie niemanden mehr.
Die Eltern sind schon gestorben. Weitschichtig Verwandte können ihr nicht helfen. Nach fünf Monaten in der Ukraine zahlt sie 6500 Euro, fast ihr gesamtes Erspartes, an Schlepper, die ihr versprechen, sie zurück nach Europa zu bringen. Nach Erhalt des Geldes schlagen sie Elena zusammen und drohen ihr, sie umzubringen, wenn sie zur Polizei geht.
Elena versucht die Flucht jetzt auf eigene Faust, sie kommt bis Ungarn, sucht dort um Asyl an, die Polizei jedoch setzt sie an der Grenze zu Serbien aus. In Serbien kommt sie in ein Flüchtlingslager. Nach drei Wochen schafft sie mit einer Gruppe anderer Migranten den Weg nach Bosnien. Hier lebt sie seit Monaten in der Grenzstadt Bihać in einem leerstehenden, nie fertiggestellten riesigen Altersheim aus den 1980er-Jahren. Ein dunkler Betonklotz, mit langen finsteren Gängen, die sich wie Schläuche durch das Gebäude ziehen. Offene Feuer brennen in den Räumen, die Wände sind schwarz vom Rauch. Kalter Wind pfeift durch den tür- und fensterlosen Gebäudekomplex. 300 Flüchtlinge wohnen illegal hier. Elena ist die einzige Frau. Angst hat sie keine. Im Gegenteil, viele suchen bei ihr Rat.
Sie kennt sich medizinisch gut aus, spricht acht Sprachen, kennt Europa, ist älter als die meisten hier. Nach Europa will sie im Inneren eines Lkw kommen. Auf einem Parkplatz wird sie die Plane eines Anhängers aufschneiden, von innen wieder zukleben. Schlepper dafür kennt sie bereits. „Container-Game“nennen die Flüchtlinge diese Fluchtvariante, 2000 Euro kostet die im Schnitt. Erfolgsquote unbekannt.
Flucht aus Liebeskummer:
Sohail Qaisar (30), Islamabad, Pakistan
Sohails Leben in Islamabad kann sich sehen lassen. Er studiert und macht seinen Universitätsabschluss im Fachgebiet Rechnungswesen. Seine Jobaussichten sind gut, ein „Government Job“steht in Aussicht. Er besitzt ein eigenes Auto, einen Kleinwagen, Marke Suzuki Cultus. Sein Land kennt er gut, schon so einige schöne Plätze Pakistans hat er als Tourist besuchen können. Städte wie Karatschi oder Lahore, Badeplätze mit weißen Sandstränden an der Küste.
An freien Tagen steht er um sechs Uhr in der Früh auf, um zu beten, danach legt er sich wieder ins Bett, schläft sich aus, bevor er so gegen neun Uhr frühstückt. Nachmittags trifft er Freunde, geht mit ihnen essen in Restaurants. Manchmal spielt man auch Kricket miteinander. Auch ein Mädchen hat er, sein Mädchen. Treffen zwischen unverheirateten Männern und Frauen sind in Pakistan nach wie vor problematisch. Man begegnet einander in Parks oder an anderen öffentlichen Plätzen, hält Distanz zueinander. Allein miteinander zu sein ist undenkbar. Sie verlieben sich.
Sie stammt aus einer reichen, politisch einflussreichen Familie, die die Hälfte des Jahres in den USA lebt. Als er bei ihren Eltern um die Hand der Tochter anhält, verbieten ihm diese jeden weiteren Kontakt mit ihr. Sohail trifft sie weiter, als ihre Brüder davon erfahren, bedrohen sie Sohail und seine Familie.
Sohail ist gebrochen. Nichts hat mehr Sinn in Pakistan. Er muss weg, ein anderes Leben leben, seine Liebe vergessen. 5000 Euro bezahlt er für Fluchthelfer. Über den Iran, die Türkei, Griechenland und Serbien kommt er bis zur EU-Außengrenze nach Bosnien. Seit rund sechs Monaten lebt er hier in den Wäldern in einem illegalen Camp. Über zehn Mal hat er schon versucht, die Grenze in die EU zu überwinden, jedes Mal ist er gescheitert. Aber eigentlich ist ihm das egal. Alles ist ihm egal. Von Europa erwartet er sich nichts. Würden ihn die Eltern seiner Freundin anrufen und ihm die Heirat erlauben, würde er sofort nach Pakistan zurückkehren.
Strenge Hierarchie im illegalen Lager
Nur Assaduzaman (26), Dhaka, Bangladesch
Das Schlimmste ist das Alleinsein. Nur lebt seit rund einem Jahr mit elf anderen Flüchtlingen in einem illegalen Lager in Bosniens Bergen. Er stammt als Einziger aus Bangladesch, die anderen sind Pakistaner oder Afghanen. Die Gruppe ist streng hierarchisch strukturiert. Nurs Zelt ist undicht und wenn es regnet, rinnt Wasser direkt auf seinen Schlafplatz zu. Nur einer von vielen kleinen Nachteilen, wenn man nicht wirklich dazugehört, sagt er. Auch zwei Schlepper sind Teil der Gruppe.
Sie besitzen neueste Smartphones, hochwertige Powerbanks, ihre Zelte sind von bester Qualität. Um trocken zu bleiben, stehen sie auf Holzpaletten. „Sie sind okay“, sagt Nur, „aber natürlich bestimmen sie immer, was zu tun ist.“1700 Euro muss Nur
bezahlen, damit man ihn mit über die Grenze nimmt. Sein Studium in Dhaka hat er mit dem Bachelor abgeschlossen. Trotzdem bekam er lediglich Gelegenheitsjobs, nicht einmal einen Euro Stundenlohn erhielt er für seine Tätigkeiten. Zu wenig für ein lebenswertes Leben. Mit einem Touristenvisum flog er in die Vereinigten Arabischen Emirate, von dort beantragte er ein Visum für Aserbaidschan. Beim Stopover in Istanbul schmuggelten ihn Helfer aus dem Flughafengelände. Etwa 7000 Euro kostete ihn die Reise bis hierher nach Bosnien. Das dritte Jahr ist er nun schon unterwegs.
Aus heutiger Sicht war es die falsche Entscheidung. Sämtliche Träume hat ihm die Reise ausgetrieben. Er strebt keinen Wohlstand mehr an, weiß längst, dass auch in Europa die Früchte für ihn in unerreichbarer Höhe hängen. Drei Wünsche aber hat er noch: 1. Das vorgestreckte Geld den Verwandten zurückgeben. 2. Den Haddsch nach Mekka durchführen und dort seine Eltern wiedersehen. 3. Von dort gemeinsam heimkehren nach Bangladesch. Wie er diese Träume verwirklichen soll, weiß er nicht, aber einfach so zurück kann er nicht.
Vierzehn Versuche an der Grenze
Sabir Hussian (28), Gujrat, Pakistan
Ein Arbeitsunfall und die folgende Armamputation bei seinem Vater sind die Wende in Sabirs Leben. Von einem Tag auf den anderen ist er mitverantwortlich für das Einkommen der Familie. Mit 13 Jahren verlässt er die Schule, um als Tagelöhner zu arbeiten. Mit 15 Jahren erzählt ihm ein Freund von Europa, dass man dort noch Möglichkeiten
habe. Noch am gleichen Abend berichtet er seinen Eltern davon, sagt, dass er von Pakistan wegwolle. Die Eltern sind dagegen. So schlecht geht es ihnen ja nicht. Sie besitzen drei Kühe und eine Ziege, sie leben in einem Haus mit fließend Wasser und Strom. Hunger leiden kennen sie nicht. Doch Europa hat sich in Sabirs Gehirn festgesetzt, nach einem halben Jahr gibt der Vater nach. Das Ersparte wird zusammengelegt. 2013 verlässt Sabir Pakistan. Zu Fuß, jene Route entlang, die schon Abertausende gegangen sind. Von Pakistan in den Iran, rund einen Monat braucht er dafür, danach in die Türkei, mit dem Boot nach Griechenland. Rund 2000 Euro kostet ihn die Flucht von Pakistan bis nach Griechenland, vorwiegend um Schlepper zu bezahlen. Alles Ersparte ist nun aufgebraucht. In Griechenland heuert er als Erntehelfer an. 20 Euro verdient er am Tag für zwölf Stunden Arbeit. Selbstverständlich arbeitet er unangemeldet. Als Unterkunft bekommt er eine heruntergekommene Hütte.
Mit fünf anderen Flüchtlingen wohnt er dort. Fließend Wasser und Strom gibt es nicht. 50 Euro werden ihm dafür monatlich vom Lohn abgezogen. Vom Monatsverdienst bleiben dann nur mehr 350 Euro:
300 Euro schickt er monatlich nach Hause, 50 Euro behält er für sich. Zigaretten sind der einzige Luxus, den er sich leistet. 2018 verlässt er Griechenland und flieht über Mazedonien und Serbien nach Bosnien. Rund zwei Wochen braucht er dafür, 1300 Euro verlangen die Schlepper.
Seit über zwei Jahren ist er nun schon in Bosnien. Hier lebt er in einem Flüchtlingslager direkt an der EU-Außengrenze. 14 Versuche, die Grenze zu überwinden, scheitern. Ein Mal schafft Sabir es bis Triest. Er glaubt, dass er es geschafft hat. Als er entdeckt wird, bringt man ihn zurück an die slowenische Grenze, nach Kroatien und von da wieder aus der EU, nach Bosnien.
Die Freunde ertranken im Meer
Salehzada Mishulluh (25), Kabul, Afghanistan
Wieder hat das „Game“nicht geklappt. „Game“(Spiel), so nennen die Flüchtlinge in Bosnien ihre Versuche, die Grenze nach Europa zu überwinden. Die Behörden griffen Salehzada diesmal in Kroatien auf, nahmen ihm das Handy weg, brachten ihn zurück nach Bosnien. Es war sein mittlerweile fünfter gescheiterter Versuch. Trotzdem wird er es wieder probieren. Er werde es so lange versuchen, bis es klappe, sagt er.
Es gibt kein Zurück nach Afghanistan. In seiner Kindheit hat er dort nur Krieg erlebt. Mit 18 Jahren ging er gegen den Willen seiner Eltern weg von zu Hause. Für einige Zeit waren sie enttäuscht, redeten kaum mit ihm, wenn er anrief. Vor eineinhalb Jahren verstarb sein Vater an Herzversagen. Dass er ihn nicht mehr sehen, er beim Begräbnis nicht dabei sein konnte, das ist das Schlimmste in Salehzadas Leben.
Seit mittlerweile sechs Jahren ist er auf der Flucht. Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland kenterte das Boot, eineinhalb Stunden musste er schwimmen, bis er gerettet wurde. Zwei Freunden ging die Kraft aus, sie ertranken. Wenn er gewusst hätte, wie hart die Reise werden würde, wäre er nicht von zu Hause weggegangen. Perspektivlosigkeit in Afghanistan und YouTube-Videos
von Europa hatten ihn motiviert, seine Heimat zu verlassen. Und jetzt sitzt er seit zwei Jahren in Bosnien fest. Hier lebt er illegal in einer aufgelassenen, halb verfallenen Fabrikhalle. Scherben, Müll, Schutt und Trostlosigkeit umgeben ihn hier. Er würde überall bleiben, auch in Bosnien, wenn er einen Job bekommen würde, einen Job, von dem er auch leben kann.
Sobald er das geschafft hat und über die nötigen Aufenthaltspapiere verfügt, will er zurück auf Besuch nach Afghanistan, um endlich wieder seine Mutter umarmen zu können. Immer, wenn er mit ihr telefoniert, weint sie und bittet ihn, doch endlich wieder zurückzukommen.
Bei SOS Bihać handelt es sich um eine Hilfsorganisation, die Flüchtlingen und bedürftigen Einheimischen an der Grenze Bosniens hilft. Der Fokus wird dabei auf das Verteilen von Lebensmitteln und Kleidung gelegt. Auch medizinische Grundversorgung für alle, die sich diese nicht leisten können, wird geboten. Lokale Helfer bringen die Hilfsgüter direkt zu den Bedürftigen. Dass die Organisation sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische unterstützt, ist eine Besonderheit, die Neid verhindern und friedliches Miteinander fördern soll. „Wir helfen nicht Flüchtlingen, nicht Bosniern. Wir helfen jedem Menschen, der in Not ist“, sagt Zlatan Kovačević, der Begründer von SOS Bihać. Die erst 2019 gegründete Organisation besteht mittlerweile aus über 30 freiwilligen Helfern, die meisten von ihnen kommen aus der Stadt Bihać.