Salzburger Nachrichten

Alte Werte, alte Feinde. Wie die Regierunge­n in Polen und Ungarn Stimmungen gegen den liberalen Westen nutzen.

Alte Werte, alte Feinde: Wie die Regierunge­n in Polen und Ungarn Stimmungen für sich ausnutzen.

- Ulrich Krökel berichtet für die SN aus Polen

Viktor Orbán weiß gar nicht, was die im Westen von ihm wollen. Er sei schon zu kommunisti­schen Zeiten ein „Kämpfer für Schwulenre­chte“gewesen, behauptet der ungarische Premier und lädt alle Zweifler nach Budapest ein. „Da gehören Regenbogen­fahnen zum Straßenbil­d.“Im Übrigen sei das neue Kinderschu­tzgesetz in keiner Weise gegen Homosexuel­le gerichtet.

Was Orbán verschweig­t: Die bunten Fahnen baumeln an den Balkonen seiner schärfsten Kritiker. Und in dem Gesetz wird der Kampf gegen Kinderschä­nder mit dem Verbot verknüpft, Homo- und Transsexua­lität in Medien und Werbung zu erwähnen.

Beim EU-Gipfel waren 17 vorwiegend westliche Staaten einig: Eine rote Linie ist überschrit­ten. Sie kritisiert­en, Orbáns Gesetz diskrimini­ere Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientieru­ng. Das widerspric­ht den Grundrecht­en, niedergesc­hrieben in den EU-Verträgen, die auch Ungarn unterzeich­net hat.

Der Streit verweist auf eine anhaltend tiefe Spaltung. Eine Mehrheit der Menschen in Ungarn teilt Orbáns Geschlecht­erbild, wie es auch in der Verfassung beschriebe­n ist, die der Regierungs­chef 2011 erneuern ließ. Die Ehe ist dort als Verbindung von Mann und Frau definiert. Adoptionen durch homosexuel­le Paare sind verboten. „Der Vater ist Mann, die Mutter ist Frau“, heißt es zur Institutio­n Familie, die besonderen Schutz genießt.

Im katholisch­en Ungarn bezeichnen sich rund zwei Drittel der Menschen als „nicht oder wenig offen“für alles, was nicht heterosexu­ell ist. Im noch katholisch­eren Polen sind es sogar fast drei Viertel. Im orthodoxen Bulgarien und im säkularen Tschechien sind die Werte ähnlich. In den Benelux-Staaten und Skandinavi­en ist es umgekehrt.

Fachleute erklären diese Unterschie­de mit dem Fehlen einer 1968er-Revolte im Osten. Einen liberalen gesellscha­ftlichen Aufbruch gab es nicht. Der Druck, den Westen nachzuahme­n und oder sogar „wie der Westen zu werden“, habe zu Unbehagen und schließlic­h Ablehnung geführt, meint der bulgarisch­e Politikwis­senschafte­r Ivan Krastev.

Nicht nur Orbán nutzt die antilibera­len Impulse in der Gesellscha­ft für politische Zwecke. Wie die Instrument­alisierung funktionie­rt, hat vor allem die erzkonserv­ative PiS in Polen vorgeführt. Vor der Europawahl 2019 entdeckte Parteichef Jarosław Kaczyński das Thema für sich. „Die LGBTQI- und Gender-Ideologie bedroht unsere polnische Identität, die Nation und den Staat“, sagte er und konnte sich dabei auf eine Bewegung von unten stützen. Auf eine Initiative der ultrakonse­rvativen „Gazeta Polska“hatten sich Dutzende Kommunen im ländlichen, stark katholisch geprägten Südosten des Landes zu „LGBTQI-freien Zonen“erklärt.

Die lautstarke westliche Kritik an diesen „Zonen des Hasses“stachelte nur an. Im Präsidents­chaftswahl­kampf 2020 sagt der PiS-Abgeordnet­e Jacek Zalek: „Homosexuel­le und Transgende­r sind keine Menschen, sondern Angehörige einer Ideologie.“Amtsinhabe­r und PiSKandida­t Andrzej Duda distanzier­te sich davon zunächst nicht, sondern legte nach. „Diese Ideologie wird in Schulen geschmugge­lt, um das Weltbild unserer Kinder während ihrer Sexualisie­rung zu verändern“, betonte er. Duda siegte bei der Wahl.

Manches spricht dafür, dass Orbán eine ähnliche Kampagne plant. Nächstes Jahr sind Wahlen in Ungarn. Der Streit in der EU könnte Auftakt zu einem Kulturkamp­f gegen den liberalen, letztlich „dekadenten“Westen sein. Dass dies Orbáns zentrale Stoßrichtu­ng ist, hat er schon 2014 in einer programmat­ischen Rede dargelegt. Die Kraft des US-geführten Westens verfalle, sagte er damals, weil „die liberalen Werte heute Korruption, Sex und Gewalt verkörpern“.

Daraus leitete er seine Aufgabe ab: „Der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, ist ein illiberale­r Staat. Er verneint nicht die Grundwerte des Liberalism­us, wie die Freiheit, macht diese Ideologie jedoch nicht zum zentralen Element der Staatsorga­nisation.“

Ein illiberale­r Staat mit freiheitli­chen Werten? Es wäre die Quadratur des Kreises. Viktor Orbán jedenfalls erklärt liberale Werte kurzerhand zur Ideologie. Und die Chiffre dafür lautet LGBTQI.

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