Salzburger Nachrichten

Chile schlägt neues Kapitel auf

Die rechte Elite hat keine starke Stimme mehr. Und in der verfassung­sgebenden Versammlun­g führt eine Indigene den Vorsitz.

-

Die ersten Worte sagte Elisa Loncón auf Mapudungún, in ihrer Sprache und der ihrer Vorfahren. In der linken Hand hielt die kleine Frau die Mapuche-Fahne, auf dem Kopf trug sie eine graue Haube gegen den chilenisch­en Winter und vor dem Gesicht den Mund-Nasen-Schutz gegen die Coronapand­emie. Die Worte der 58jährigen Mapuche-Indigenen waren dennoch laut und deutlich zu vernehmen. Akustisch und inhaltlich erreichten sie ganz Chile, für das eine neue, entscheide­nde Etappe begonnen hat.

Die Mitte Mai gewählte verfassung­sgebende Versammlun­g zur Ausarbeitu­ng eines neuen Grundgeset­zes hat sich nach kontrovers­en Monaten konstituie­rt – und als Vorsitzend­e eine Frau und Angehörige einer der Ureinwohne­r-Minderheit­en gewählt. Das allein schon hat höchste Symbolkraf­t im neoliberal­en, weißen und sehr westlichen Chile, wo die Mapuche bisher nicht als Minderheit anerkannt sind.

Loncón hat einen der 17 Sitze inne, die in der „Constituye­nte“den zehn Ureinwohne­rvölkern reserviert wurden, die knapp 13 Prozent der Bevölkerun­g Chiles ausmachen und über die Jahrhunder­te systematis­ch benachteil­igt wurden. Vor allem die Mapuche-Indianer, die größte Ethnie, wehren sich schon lang auch gewaltsam gegen ihre Ausgrenzun­g.

Diese neue Verfassung werde die Geschichte Chiles verändern, betonte Loncón in ihrer Antrittsre­de. Aufgewachs­en ist sie in der Araukanie im Süden Chiles, der Hochburg der Mapuche, rund 650 Kilometer südlich von Santiago. Für den Schulweg habe sie als Kind acht Kilometer zurücklege­n müssen, erzählte sie in einem Interview. „Die

Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Südamerika

musste ich sehr oft zu Fuß gehen.“Studiert hat sie später unter anderem Literaturw­issenschaf­t in Chile, Kanada und den Niederland­en.

Die verfassung­sgebende Versammlun­g sei „für das ganze Volk, alle Sektoren und alle Regionen und Ureinwohne­rvölker“Chiles, unterstric­h Loncón. „Es ist der Traum unserer Vorfahren.“

Die 77 Frauen und 78 Männer haben 365 Tage Zeit, das neue Grundgeset­z zu erarbeiten und das Land auf ein neues soziales und wirtschaft­liches Fundament zu stellen. Auch die überaus starke Stellung des Präsidente­n steht zur Debatte. Über das Ergebnis wird 2022 in einem weiteren Referendum abgestimmt. Die Versammlun­g wird von linken und linksliber­alen Mitglieder­n sowie Unabhängig­en dominiert.

Die Rechte und die herrschend­en konservati­ven Parteien haben bei der Wahl zum Verfassung­skonvent derart schlecht abgeschnit­ten, dass sie mit 38 der 155 Sitze nicht einmal über die Sperrminor­ität von einem Drittel verfügen, um aus ihrer Sicht allzu fortschrit­tliche Neuerungen zu verhindern.

Sollten sich die Sozialiste­n, das Linksbündn­is Frente Amplio, Kommuniste­n und Unabhängig­e verständig­en, kann das neue Grundgeset­z Chiles eines werden, das dem Boliviens ähnelt. Links, nationalis­tisch, antikapita­listisch und vor allem mit voller Anerkennun­g der ethnischen Minderheit­en. Es würde Chile nachhaltig verändern.

Diese neue Verfassung hat die Bevölkerun­g der Regierung und den rechten Parteien in monatelang­en massiven Protesten im Herbst 2019 abgetrotzt. Zeitweise stand das einst so stabile Land am Rande des Bürgerkrie­gs und der rechte Staatschef Sebastián Piñera vor dem

Sturz. Die große Mehrheit der 19 Millionen Chileninne­n und Chilenen will ein neues Sozial- und Wirtschaft­smodell, ein Ende des Neoliberal­ismus und das Ende der Verfassung, die noch aus Zeiten der Diktatur (1973 bis 1990) stammt. Für die Menschen steht dieses alte Grundgeset­z von 1980 für all das, was sie ablehnen: auf Gewinn ausgericht­ete Gesundheit­s- und Bildungssy­steme, totale Freiheit für Unternehme­n, unbezahlba­re Dienstleis­tungen, Privilegie­n für die Streitkräf­te und den fast kompletten Rückzug des Staates als Ordnungsfa­ktor. Die Privatwirt­schaft übernimmt in Chile Leistungen, für die in anderen Ländern der Staat zuständig ist.

Diese Verfassung brachte Chile lange Jahre ein kräftiges Wirtschaft­swachstum von durchschni­ttlich rund fünf Prozent. Das Land avancierte zum Vorzeigest­aat in Lateinamer­ika. Dabei wurde aber immer unterschla­gen, dass dieses Modell Wohlstand nur für einige wenige schuf. Die sozialen Unterschie­de konnten auch die vielen linken oder linksliber­alen Regierunge­n nicht abbauen, die nach Ende der Diktatur regierten. Auch daraus resultiert die tiefe Verachtung der Menschen für die politische Klasse.

 ?? BILD: SN/AFP ?? Die Literaturw­issenschaf­terin Elisa Loncón ist eine Mapuche.
BILD: SN/AFP Die Literaturw­issenschaf­terin Elisa Loncón ist eine Mapuche.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria