Lasst sie in Ruhe!
Über das Recht, so zu sein, wie man ist. 50 Jahre nach der Kleinen Strafrechtsreform führen Schwule heute ein Leben, von dem sie damals nicht zu träumen wagten. Trotzdem wird schwul sein heute nur geduldet – und selten respektiert.
„Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir müssen uns organisieren. Werdet stolz auf eure Homosexualität. Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen. Freiheit für die Schwulen.“
Rosa von Praunheim hat das vor 50 Jahren gesagt. Am 4. Juli 1971 wurde sein halbdokumentarischer Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“erstmals in Berlin aufgeführt. Seitdem ist viel passiert. Praunheims Co-Autor Martin Dannecker sagte dem SWR, dass er es sich vor 50 Jahren niemals hätte träumen lassen, dass Schwule und Lesben heute ihre Liebe öffentlich zeigen dürfen. Trotzdem müsse man das Thema immer noch ambivalent betrachten. Einerseits sei es gelungen, dass man für homophobe Äußerungen keinen Beifall mehr bekommt. Solche Sprüche werden sogar sanktioniert. Das könne bis zur Entlassung führen. Andererseits sei man immer noch weit davon entfernt, dass Homosexualität eine Selbstverständlichkeit sei.
Der Kunstgriff des Films, der Homosexuellen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen sollte, war die positive Aufladung des Worts „schwul“. Bis dahin war das eindeutig ein Schimpfwort. Im Film kommt das Wort 90 Mal vor. Dannecker erinnert sich an das Booklet, das er damals für den WDR geschrieben hat. Der Titel lautete: „Wer lächelt schon, wenn er aus dem Schlaf gerissen wird“. Die Intention des Films sei es nämlich gewesen, Homosexuelle zu ermutigen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass sie geändert werden. Was dazu führte, dass „schwul“zu einem „Kampfwort“wurde. Zwar sei das Schimpfwort „schwul“natürlich auch in gewissen Kreisen geblieben, sagt Dannecker.
„Aber es meint heute mehr als nur die sexuelle Objektwahl. Schwul meint häufig etwas Übertriebenes, etwas Auffälliges, etwas Abweichendes. Also wenn Jugendliche heute sagen, das ist aber ganz schön schwul, dann meinen sie unter Umständen, das ist etwas, was aus der Norm ist. Aber nicht mehr diskreditierend.“Unmittelbar nach der Premiere des Films gründeten sich 50 Gruppen, die die Rechte der Homosexuellen vorantrieben. Darunter waren auch viele Heterosexuelle. „Das war eine Bewegung“, sagt Dannecker, „die klargemacht hat, dass schwul sein kein Schaden ist, sondern dass hier eine schwule Entwicklung vorangetrieben wird.“
Unterstützung kam vor allem auch aus der Kulturszene. Die schwule Theatergruppe „Brühwarm“um Rio Reiser besang das Lebensgefühl dieser Zeit so: „Sie haben mir ein Gefühl geklaut / Und das heißt Liebe / Denn meine Liebe ist in ihrer Welt verboten!“
In Deutschland hatte es die schwule Bewegung bereits leichter als in Österreich. 1969 war der berüchtigte Paragraf 175 zwar nicht abgeschafft, aber immerhin reformiert worden. Was zur Folge hatte, dass man nicht mehr ins Gefängnis musste, wenn man bei homosexuellen Handlungen „erwischt“wurde. „Was immer mit ,erwischt‘ gemeint war“, sagt Wolfgang Radlegger heute. Der ehemalige SPÖ-Politiker war gerade Klubsekretär, als sich seine Partei in den Jahren 1968 bis 1970 große Reformpläne vornahm.
Vorangetrieben wurden diese von den vier Sozialdemokraten Christian Broda, Heinz Fischer, Leopold Gratz und Karl Blecha. Noch 1968, so Radlegger, habe die ÖVP die Reform des Paragrafen, der die Homosexualität kriminalisierte, mit der Begründung abgelehnt, diese Maßnahme entspreche nicht dem „gesunden Volksempfinden“. Vor allem die katholische Kirche habe sich quergelegt. Aber dank der Reform im Jahr 1969 in Deutschland kam nun auch in Österreich Bewegung in die Sache.
„Dabei“, sagt Radlegger, „müssen Sie sich vorstellen, dass die Entkriminalisierung der Homosexuellen in Frankreich schon 1791 erfolgte. In Belgien und Luxemburg 1792 und auch das damals noch stockkonservative Holland folgte 1811. Auch die südeuropäischen katholischen Staaten Portugal, Spanien und Italien hatten die Homosexualität längst entkriminalisiert, als Christian Broda an den Stammtischen immer noch als ,warmer Bruder‘ beschimpft wurde.“Radlegger kannte als Jugendlicher keinen einzigen
Homosexuellen. Ein Outing wäre damals auch fatal gewesen. Erst später wurde er durch einen Fall im Bekanntenkreis sensibilisiert: „Ein Kollege meines Vaters hatte einen Bruder, der war Zuckerbäcker. Das war ein besonders liebenswerter Mann“, erinnert er sich. „Irgendwann erfuhr ich beiläufig, dass er mehrfach vorbestraft war. Warum? Er war schwul.“Das Mindestmaß betrug sechs Monate Gefängnis. Es konnten aber auch fünf Jahre werden. „In dieser Zeit wurden ja nicht nur Schwule diskriminiert“, fährt Radlegger fort. „Noch in den 1960er-Jahren mussten Frauen die Unterschrift ihres Ehemanns vorweisen, wenn sie den Führerschein machen wollten. Ich erzähle das nur, damit Sie eine Ahnung haben, welcher Mief die Gesellschaft damals durchzog.“Aber auch die SPÖ konnte sich stur zeigen, wenn es um die Rechte homosexueller Menschen ging. Noch 1991 verhinderte Bundeskanzler Franz Vranitzky, dass die Opferrolle der Homosexuellen in der Nazizeit gesetzlich statuiert wurde. Was bedeutete, dass sie nach wie vor vom Opferfürsorgegesetz ausgeschlossen wurden: „Die Roma mussten bis zur Anerkennung bis 1995 warten – die Schwulen bis 2005.“
Szenenwechsel: Wir sitzen mit Kurt Fuchs (71) im Restaurant „S’Wintersteller“. Er ist gebürtiger Schwabe, Koch und schwul. Er hatte Glück. Als in Deutschland der Paragraf 175 reformiert wurde, war er 19 Jahre alt. Trotzdem habe man in den 1970er-Jahren als schwules Paar ein Schattenleben geführt. „Ich habe irgendwann in der Studienzeit meinen Mann Eberhard einfach mit nach Hause genommen“, erzählt er. Die Familie habe wohl eine Ahnung seiner Neigung gehabt, aber gesprochen wurde nie darüber. Erst bei der Feier zum
80. Geburtstag seiner Großmutter, das war 1980, habe es eine erlösende Entspannung gegeben. „Da sagte meine Oma zu Eberhard: ,Du kannst jetzt auch Oma zu mir sagen.‘ Da war der Kittel geflickt.“
Ist heute in Europa also alles in Ordnung? Nein. Erst am Dienstag wurde in der spanischen Stadt A Coruña ein 24-jähriger Krankenpfleger von drei Männern zu Tode geprügelt. Augenzeugen zufolge hätten sie ihn zuerst als „Schwuchtel“beschimpft und dann brutal zugeschlagen. Das Opfer hieß Samuel Luiz. Bald darauf verbreitete sich der Hashtag „#JusticiaParaSamuel“(Gerechtigkeit für Samuel) in Windeseile. Es kam zu Solidaritätskundgebungen, wobei eine in Madrid gewaltsam endete. Auf Video
aufzeichnungen ist zu sehen, wie die Polizei auf dem zentralen Puerta del Sol ohne ersichtlichen Grund auf Demonstranten einprügelte. Die Regionalregierung hat angekündigt, den Fall untersuchen zu lassen.
Besonders schlimm stellt sich in Europa die Situation für Schwule in Ungarn, Polen und Russland dar. Aber auch der Vatikan findet sich regelmäßig in den Reihen homophober Äußerungen. So sandte vor zwei Wochen der Außenbeauftragte des Vatikans, Erzbischof Paul Gallagher, eine Verbalnote an die Adresse des italienischen Regierungschefs Mario Draghi. Darin bittet er, das geplante italienische Gesetz gegen Geschlechterdiskriminierung zu überdenken. Die Begründung: Dadurch würden Rechte der katholischen Kirche „unzulässig eingeschränkt“. Und zwar konkret jenes der „Meinungsäußerungsfreiheit“. Das Gesetz, so Gallagher, würde das Konkordat von 1984 verletzen, in dem die bilateralen Beziehungen zwischen dem italienischen Staat und der katholischen Kirche Italiens geregelt werden.
Dabei hat das solcherart angegriffene Gesetz nur eines im Sinn: Die Vorlage zielt darauf ab, diskriminierende Handlungen und Anstiftung zur Gewalt gegen Schwule, Lesben, TransgenderPersonen und Behinderte unter Strafe zu stellen. Der Vatikan argumentierte schon im Vorjahr mit einer – sagen wir einmal – seltsamen Logik gegen die Rechte von Homosexuellen. Da kam die italienische Bischofskonferenz zu dem Schluss, dass es nicht angehen könne, „diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die der Meinung sind, dass die Familie einen Vater und eine Mutter braucht und nicht die Verdoppelung derselben Figur“. Die Argumentation überrascht. Denn genau darum geht es in dem geplanten Gesetz nicht: „Die Meinungsäußerungsfreiheit wird nicht infrage gestellt. Alle Meinungen und legitimen Handlungen bleiben erlaubt – unter Strafe gestellt werden lediglich Verhaltensweisen, die eine konkrete Gefahr mit sich bringen, dass sie zur Diskriminierung und zu Gewalt führen können“, erklärt der linke Abgeordnete Alessandro Zan, der das Gesetz eingebracht hat.
In Österreich gibt es kaum Politiker, die sich zur Homosexualität bekennen. Einer davon ist der Oberndorfer Georg Djundja (38). Er ist der erste direkt gewählte schwule Bürgermeister Österreichs. Djundja sagt, sein offener Umgang mit seiner sexuellen Orientierung habe vielleicht sogar geholfen, die Wahl zu gewinnen. „Ich würde für keinen Job dieser Welt meinen Partner verleugnen“, sagt er. Und genau diese Ehrlichkeit kam offenbar gut an: „Die Leute spürten: Mir kann man trauen.“Djundja rät auch aus einem anderen Grund dazu, seine sexuelle Orientierung nicht zu verstecken: „Das ist nicht gesund für die Psyche“, meint er. Auch wenn man immer wieder homophobe Angriffe einstecken müsse.
So schrieb etwa der Kandidat der
„Freien Liste“während des Wahlkampfs auf seiner Facebook-Seite, dass Homosexuelle keine Stadt führen dürften, weil sie kein normales Familienleben haben. Die Oberndorfer reagierten deutlich: Die „Freie Liste“kam über zwei Mandate (von 25) nicht hinaus. Djundja ist stolz auf die Aufgeschlossenheit der Wähler: „Hier geht es ja nicht um schwul oder hetero, sondern um die Persönlichkeit.“Trotzdem gebe es noch viele Rechte, für die man kämpfen müsse. In vielen Bereichen würden Schwule immer noch ein Leben zweiter Klasse führen. So ist in der Bundesverfassung bis heute kein Schutzgrund „Sexuelle Orientierung“enthalten. Außerdem sind „Umpolungstherapien“ immer noch erlaubt.
Auch ein Diskriminierungsschutz außerhalb der Arbeitswelt ist noch nicht gegeben. Weiters dürfen Schwule kein Blut spenden. „Das ist komisch“, sagt Djundja. „Ich bin selbst beim Roten Kreuz. Aber Blut spenden darf ich nicht.“Zurückzuführen ist das auf die strengen Regeln wegen HIV und anderer übertragbarer Krankheiten. Aber gleich eine ganze Minderheit unter Generalverdacht stellen, obwohl es HIV-Tests gibt? Das ist – pardon – falsch.
Wie geht es nun weiter mit der Homosexualität? Diese Frage wurde schon 1971 Bruno Kreisky nach der Kleinen Strafrechtsreform gestellt. Er antwortete in seiner unnachahmlich süffisanten Art:
„Na ja. Pflicht soll sie nicht werden.“