Briefe schreiben Geschichte
Zwischen den Zeilen. Seit Tausenden Jahren bezeugen Briefe große Kämpfe der Menschheit – jene, die wir privat in uns drinnen führen, und jene, die draußen am Schlachtfeld der Geschichte geführt werden.
Wann haben Sie zuletzt einen Brief geschrieben? Diesen inneren Monolog, der sich nach außen kehrt. Der jemanden direkt anspricht. Der sich ihm oder ihr zuwendet und sich nach dem Befinden erkundigt. Und der ohne unterstreichende Smiley-Garnierung auskommt.
Ein Wie-geht-es-Dir klingt gewichtiger. Wenn man es niederschreibt, fühlt es sich eindringlicher an als in oberflächlichen Chatdialogen: „Wie geht’s, was machst?“und „Eh gut, nix, du?“Es fragt: Wie geht es dir wirklich? Weil es sagt: Ich habe mir Zeit genommen, einen Stift und Papier. Zwei Mal gefaltet, rein in den Umschlag, adressiert und mit einer Marke beklebt in den Briefkasten geworfen.
Briefen sei das Wesen des Lebens eingeschrieben, meint der Autor Simon Sebag Montefiore. „Ihre Existenz hat ein Gewicht. Sie machen Momente real. Das liebe ich an ihnen. Wir existieren, weil sie es belegen.“2018 ist sein Buch über historische Briefe berühmter Absender erschienen. Aus diesem Jahr stammt auch der aktuellste, verfasst vom TurboTwitteranten Donald Trump. Jetzt hat Maria Zettner „Written in History. Letters that Changed the World“auf Deutsch übersetzt. Amüsiert stöbert man sich darin durch drei Jahrtausende.
Die Arroganz der Mächtigen liest man zum Beispiel aus dem Brief von Ramses dem Großen an Hattuschili, den König der Hethiter aus dem Jahr 1243 vor Christus, der den überheblichen Pharao gibt. Kolumbus schickt, was er seinen „tatsachengetreuen Kurzbericht“nennt, an den Schatzmeister des Spanischen Königshofs. Dieses Schreiben beschert den Europäern einen Eindruck von Amerika und ihm entspringt das Wort „Kannibale“.
Im Kapitel „Anstand“schreibt Maria Theresia an ihre Tochter Marie Antoinette am 30. Juli 1775: „Ich sehe nur Intrige, gewöhnliche Bosheit, Vergnügen an Spott und Schikane ... Dein Glück kann sich nur allzu schnell wandeln, und durch eigenes Verschulden könntest Du leicht in tiefes Elend stürzen. Das ist die Folge Deiner entsetzlichen Zügellosigkeit, die verhindert, dass Du in jeglichen ernsthafteren Dingen Ausdauer beweist.“Fünf Jahre danach stirbt die Kaiserin. Sie erlebt das „Ungemach“nicht mehr, das sie befürchtet hatte – die Französische Revolution und die Hinrichtung Marie Antoinettes.
Laufpassbriefe, Liebesbekundungen, Schweinisches von Mozart an seine Cousine und sexuelle Abenteuer vom Romancier Gustave Flaubert versammelt Montefiore ebenso wie den liebestrunkenen Austausch zwischen Suleiman dem Prächtigen und dem Sklavenmädchen Hürrem, zwischen Henry Miller und Anaïs Nin und zwischen Vita SackvilleWest und Virginia Woolf. Ein Brief verdeutlicht die Endlosigkeit von Liebe besonders eindrücklich: Leonhard Cohen nimmt darin Abschied von seiner ehemaligen Geliebten Marianne Ihlen, die ihn in den 1960er-Jahren zu Songs wie „So Long, Marianne“oder „Bird on the Wire“inspirierte. Einen Tag bevor sie ins Koma fällt und wenig später stirbt, erreichen sie Cohens Zeilen: „Liebste Marianne, ich bin nur ein kurzes Stück hinter Dir, nah genug, um Deine Hand zu ergreifen [...] Ich seh’ Dich dann weiter die Straße runter.“Cohen selbst starb kein halbes Jahr später.
Briefe sind einfach die intimste schriftliche Ausdrucksform. Bevor wir „Ich liebe meinen Kanzler“und Kuss-Emojis in neuem Licht sehen, stand das jedenfalls außer Zweifel. Apropos Kuss: Josef Stalin schrieb seinerzeit auf eine Postkarte von Rodins Skulptur „Der Kuss“: „Ich küüüssssse Dich inbrünstig (irgendwie anders zu küssen, lohnt sich nicht)“. Drei „ü“und fünf zischende „s“. Ebender wiederum erhielt ein weniger liebevolles Schreiben von Tito: „Hör auf damit, Leute zu schicken, die mich ermorden sollen!“, fällt er gleich mit der Tür ins Haus. „Wenn du nicht aufhörst, Killer zu schicken, werde ich einen sehr effizienten nach Moskau schicken, und ich werde ganz bestimmt nicht noch einen zweiten schicken müssen“, heißt es direkt.
Babur, der erste Herrscher über das Mogulreich, Eroberer und Dichter, schildert seinem Sohn detailliert einen Mordanschlag. So etwas ist auch selten erhalten. Buwa, die Mutter des von ihm getöteten Sultans, wollte ihn vergiften, nachdem er 1526 in Indien einmarschiert war.
Um Krieg geht es oft. Freimütig schreibt ein Bauer an einen Zaren, als Europa auf den stören.“Ersten Weltkrieg zuschlittert: „Ich weiß, dass alle Krieg von Ihnen wollten, augenscheinlich ohne zu erkennen, dass dies Verderben bedeutet. [...] Sie sind der Zar, Vater des Volkes, lassen Sie nicht zu, dass die Verrückten triumphieren und das Volk zer
Und weil D-Day so verläuft wie von General „Ike“Eisenhower gewünscht, kommt sein Plan-B-Brief nie zum Einsatz. Hier heißt es: „Falls dem Versuch irgendeine Schuld oder ein Makel anhaftet, so ist dies ganz allein mir zuzuschreiben.“
Erstaunlich liest sich, was Weihnachten 1940 bei Adolf Hitler landet: Mahatma Gandhi statuiert brieflich ein Exempel für Pazifismus, Menschenwürde und Anstand, mit einer Demut, einem Konsenswillen und gleichzeitig einer solchen charismatischen Kraft und Eleganz, die seinesgleichen sucht.
Ob er je eine Antwort erhielt? Viele Briefe der Geschichte blieben unbeantwortet: Die Paulusbriefe waren gar nicht zur Beantwortung gedacht. Dennoch trugen sie beträchtlich zur Verbreitung des Christentums bei.
Das Medium Brief bestimmt Politik, Weltenlauf, Erinnerung und auch Ruhm. Franz Kafka weist im Winter vor genau 100 Jahren seinen Freund Max Brod in seinem letzten Brief an, „alles, was sich in meinem Nachlass ... an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen“. Er glaubte, diese Dokumente würden seinem literarischen Ruf schaden. Doch Brod widersetzte sich bekanntlich diesem Wunsch und veröffentlichte zwischen 1925 und 1933 bekannte Romane wie „Der Prozess“und „Das Schloss“.
Es war zu dieser Zeit bereits so, dass das Telefon sich in den Mittelpunkt der Kommunikation drängte. Die Mobiltelefonie seit den 1990ern versetzte der Briefform dann den endgültigen Dolchstoß. Mittlerweile werden politische Entscheidungen, höchstrelevante Postenbesetzungen und dergleichen in Kurznachrichten am Smartphone gespeichert – und landen eventuell erst danach als Untersuchungsgegenstand auf Papier.
Wie verändert das die Geschichtsschreibung? Der Russland-Kenner Montefiore weiß zu berichten, dass vom Kreml in heiklen Angelegenheiten brieflich kommuniziert wird. Aus Angst vor Hackerangriffen und Cyberspionage. Sein Rückblick auf die Briefkultur ist nicht nur eine kurzweilige Lektüre. Irgendwie macht sie Lust, analoger zu werden und wieder einmal einen Brief zu schreiben. „Es ist nämlich etwas anderes, einen Brief, etwas anderes, Geschichte, etwas anderes, für einen Freund, und wieder etwas anderes, für die Allgemeinheit zu schreiben. Lebe wohl!“betonte schon Plinius der Jüngere.
Buchtipp: „Geschichte schreiben. Briefe, die die Welt veränderten“. Simon Sebag Montefiore. Aus dem Englischen von Maria Zettner. Klett-Cotta-Verlag.