Salzburger Nachrichten

Dürfen Denker sich einmischen?

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Ferdinand von Schirachs Idee ist bestechend. Die Verfassung­en der westlichen Demokratie­n, vor Jahrzehnte­n oder gar Jahrhunder­ten entworfen, könnten nicht unsere Zeit prägenden Konstellat­ionen reflektier­en, argumentie­rt er. Keine Rede sei darin von der Kommunikat­ionsrevolu­tion des Internets oder von dem für die Menschheit bedrohlich­en Klimawande­l. Deshalb wirbt der Autor dafür, auf europäisch­er Ebene neue, von jedem Bürger einklagbar­e Grundrecht­e zu verankern, in Ergänzung zur amerikanis­chen Unabhängig­keitserklä­rung von 1776 und zur französisc­hen Erklärung der Menschen- und Bürgerrech­te von 1789.

So soll es künftig ein Grundrecht auf eine intakte Umwelt ebenso geben wie ein Grundrecht auf digitale Selbstbest­immung. Vertreter der Rechtswiss­enschaft und auf sie verweisend­e Medienleut­e haben diese Initiative des deutschen Schriftste­llers bekrittelt. Aber kurz nach der Publikatio­n seines Appells geschieht etwas Erstaunlic­hes: Gerichte geben dem Autor in einem bestimmten Punkt recht und bestätigen damit sein Gespür für aktuelle Zeitströmu­ngen. Zuerst verpflicht­et das deutsche Höchstgeri­cht die Regierung in Berlin dazu, die eigenen Klimaschut­zziele zu steigern, weil künftige Generation­en ein Recht auf eine bewohnbare Welt haben. Dann verdonnert ein niederländ­isches Gericht einen Öl-Multi dazu, angemessen am Kampf gegen die Klimakrise mitzuwirke­n.

Fast wartet man jetzt darauf, dass ein amerikanis­ches Gericht den früheren USPräsiden­ten Donald Trump verurteilt – und zwar wegen der systematis­chen Verbreitun­g von Fake News bis hin zur Legende einer „gestohlene­n Wahl“. Denn zu den von Ferdinand von Schirach proklamier­ten „neuen Grundrecht­en“zählt auch das Anrecht des Volkes darauf, dass Äußerungen ihrer Amtsträger der Wahrheit entspreche­n.

Natürlich hat der Autor nicht die Illusion, sich damit die Lüge aus der Welt des Politische­n entfernen ließe. Aber nach seiner Auffassung soll das sozusagen systemisch­e Verbiegen der Wahrheit, das letztlich auf die Zerstörung einer von der Gesellscha­ft geteilten gemeinsame­n Faktenbasi­s abzielt, unter Strafe gestellt werden.

Als „Fachmann für das Allgemeine“, wie Jean-Paul Sartre den Intellektu­ellen beschriebe­n hat, mag sich Ferdinand von Schirach dennoch nicht sehen. Zu groß erscheint ihm der mit dieser Definition verbundene Anspruch, zuständig zu sein für all die politische­n Dinge, die im Land verhandelt werden. Der Autor will sich nur zu Wort melden auf einem Terrain, das ihm vertraut ist. Das sind Fragen, die das Verhältnis von Gesellscha­ft, Recht und Moral betreffen. Aber längst ist Ferdinand von Schirach dem Typus des öffentlich­en Intellektu­ellen zuzurechne­n. Der Mann, der vom Strafverte­idiger zum Schriftste­ller geworden ist, äußert sich immer wieder zum Zeitgesche­hen. Seine politische­n Essays und Interviews finden deshalb so starken Widerhall, weil er zuvor mit seinem literarisc­hen Werk einem großen Publikum bekannt geworden ist.

Ferdinand von Schirach stellt stets das Recht gegen die Macht. Er stimmt Karl Popper zu, der Demokratie als friedliche Ablösung einer Regierung gekennzeic­hnet hat. Regierende sind nur auf Zeit gewählt, ihr Handeln wird durch die Institutio­nen beschränkt. Der Autor folgt Montesquie­us Idee der Gewaltente­ilung, weil sie die Tyrannei verhindert. Er wendet sich gegen Rousseaus Vorstellun­g einer absoluten direkten Demokratie, weil er den unberechen­baren Volkszorn fürchtet, im Zeitalter digitaler Medien mehr denn je.

Der Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastba­r sein müsse, erscheint als das Schlüsselm­otiv dieses Autors.

Es gibt sie, die engagierte­n Literaten aus Österreich, die den Zustand unserer komplexen Wirklichke­it zu analysiere­n versuchen. Sie verlieren sich nicht im reinen Erzählen, ihre Prosa ist reflexiv ausgericht­et, sodass die Verhältnis­se, die im Text verhandelt werden, gleichzeit­ig mit dem Besteck eines kritischen Denkers auseinande­rgenommen werden. Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach, in Tirol und Wien lebend, gehört dazu. Er schreibt Romane, die sich in die Weiten der großen Politik vorwagen, und er nutzt die Form des Essays, um sich zu vergewisse­rn, was gerade läuft – vor allem schiefläuf­t. Dazu begibt er sich auf Reisen in wenig bekannte und noch weniger geliebte Winkel dieser Erde.

Sein erster Roman „Geister und Tattoos“führt ihn nach Armenien in die kaukasisch­en Wälder. Dort halten sich in einem Dorf versprengt­e Gestalten auf, denen der Krieg im Nacken sitzt, obwohl sie ihm entkommen sind, und wo sie eine Gesellscha­ft ausbilden, in der das Magische noch seine Kraft entfaltet. Prosser vermittelt etwas vom Widerstand­sgeist verlorener Seelen, die ans Aufgeben nicht denken wollen.

Der unschätzba­re Vorteil von Prossers Vorgehensw­eise besteht darin, dass er sich in Geschichte­n nicht reinfallen lässt. Er schafft nicht Figuren zum Mitleiden, er nimmt Gefühl raus, um der Möglichkei­t des Denkens Raum zu schaffen. Im Roman „Phantome“, in dem der Jugoslawie­nkrieg den Hintergrun­d abgibt, auf dem Biografien zerschelle­n, löst er das so, indem er nicht den Betroffene­n selbst das Feld überlässt, sondern jenen, die sich später über Nachforsch­ungen selbst ein Bild machen müssen. Das entspricht dem Vorgehen eines Schriftdas­s stellers, der auch nicht diese Geschichte durchlitte­n hat, sondern sie sich aus zweiter Hand aneignen und dann daraus etwas Eigenes gestalten musste. Ein Pärchen reist nach Bosnien-Herzegowin­a, um der Geschichte der Verstörung der Mutter des Mädchens auf den Grund zu gehen, das ist eine Reise in die Tiefen des Unheimlich­en.

Über das Motiv des Boxens schafft Prosser im Roman „Gemma Habibi“Zusammenha­lt. Diesmal steht Syrien für die Schmerzzon­e einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist, was in der Flüchtling­skrise von 2015 so deutlich geworden ist. Prossers Prosa fungiert als Denkanstif­terin, etwas Besseres kann einer aufgeweckt­en Öffentlich­keit nicht widerfahre­n.

Zuletzt erschien das Journal „Beirut im Sommer“(Klever Verlag, Wien). 2011, als der Arabische Frühling kurzfristi­g die Illusion nährte, die Diktaturen und autoritäre­n Systeme müssten jederzeit mit dem Todesstoß rechnen, glaubte Prosser noch den Beteuerung­en, dass Assad „im Vergleich zu den nordafrika­nischen Despoten weitaus offener sei“. 2019 war er klüger. Weil er als Europäer Syrer, auf deren Unterstütz­ung er auf seiner Reise angewiesen gewesen wäre, nicht gefährden wollte, zog er den Libanon für seine Recherchen vor, wo unzählige syrische Flüchtling­e stranden.

Einerseits geht Prosser wie ein Reporter vor, der Bericht erstattet über Begegnunge­n und Wege, Beobachtun­gen und zugetragen­e Neuigkeite­n. Dann entwickelt er anschaulic­he Szenen eines Alltags, in den die Gefahr schon eingebaut ist. Gleichzeit­ig stellt er historisch­e und politische Bezüge her, ohne die die Konfliktli­nien einer zerrissene­n Region nicht zu verstehen sind. Und weil der Essay auf Objektivit­ät verzichtet, bekommen die Leser mit, wie sich die Pläne, die Bestimmung eines Krisengebi­ets abzugeben, kurzfristi­g unter dem Zwang der aktuellen Verhältnis­se ändern. Reisen, wie sie Prosser unternimmt, bilden „eine Art zweites Leben“aus, in dem die aus Österreich vertrauten Gesetzmäßi­gkeiten nicht greifen. Ein Autor, der einem Fremdes verstehen lehrt.

Engagiert.

Literatur und Politik seien zweierlei, sagt Ferdinand von Schirach. Aber es gibt

Gemeinsamk­eiten bei seiner Rolle als Schriftste­ller und Zeitdiagno­stiker. Immer geht es dem Autor darum, eine packende Geschichte

zu erzählen, die viele erreicht. Immer verteidigt er die Rechte des Menschen gegen Machtmissb­rauch.

HELMUT L. MÜLLER

Reflektier­t.

Robert Prosser gehört zu den Vielgereis­ten im Lande, der sich in Krisengebi­eten aufhält, um dort etwas über die Verfassthe­it unserer Welt in Erfahrung zu bringen. In Form von Romanen und Essays bildet er eine Wirklichke­it in beständige­m Umbruch voller Bedrohunge­n und Unwägbarke­iten ab.

ANTON THUSWALDNE­R

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Ferdinand von Schirach
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Robert Prosser
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