G’sunde Gegend
Kräuterkunde in der Hochsteiermark. Eine Vielfalt an Blüten und Heilpflanzen bedeckt die Almen und Wiesen rund um den Hochschwab.
Zuallererst einmal eine Definition. Die Hochsteiermark, das ist der noch junge Name des obersteirischen Ostens – ein gebirgiges, sattgrünes Auf und Ab zwischen Leoben, Mürzzuschlag und Mariazell. Neben technischen Innovationen entspringen hier rund um den Hochschwab auch jene Hochquellen, die ganz Wien und halb Graz mit frischem Trinkwasser versorgen. Kajak, Wanderschuh, Gleitschirm und Mountainbike geben den ganzen Sommer über den Ton an. Zwischen Aflenz und Mariazell jedoch finden viele ihr Glück statt in den prachtvollen Rundumblicken im Gras direkt vor ihren Füßen.
Regina Müllner setzt bedächtig einen Schritt vor den anderen. Sie ist auf der Suche nach der Meisterwurz. Ein Heimspiel für die Heilkräuterpädagogin, kennt sie doch jeden Flecken hier hoch oben auf der Aflenzer Bürgeralm. „Meisterwurz wächst oft unter Latschen und braucht Feuchtigkeit“, sagt die schlanke Steirerin mit ihrem weißen Haarschopf, während sie einen vermuteten Standort ansteuert. Und tatsächlich, hier stehen sie schon, die heilsamen Doldenblütler, von denen allerdings, so Regina Müllner, nur die Wurzeln verwendet würden. Auch Reginas Mann, Augustin Pronnegg, ist mit von der Partie. Zu jedem Kräutlein, zu fast jeder Blüte hat sie einen Namen parat und meist auch gleich eine Verwendung. Samt guten Tipps, versteht sich. „Thymian und Quendel sollte man immer mit einer Schere abschneiden, denn die Wurzel wird sonst leicht herausgerissen.“Während also der Laie staunt und immer neue Pflänzchen entdeckt, ist die Aflenzer Bürgeralpe auch schon halb überquert, und der Blick geht von der Panoramaplattform weit über das Aflenzer Becken, ein reiches Land, das nach den Eppensteinern viele Jahrhunderte lang von den St. Lambrechter Benediktinern verwaltet wurde.
Bürgeralmen sind eine Eigenheit der Region. Auch die Aflenzer Alm hieß früher Hofalm, denn jeder Hof im Tal hatte ein Recht auf ein Stück der Hochalm, etwa um das Vieh hier weiden zu lassen. Mit dem Aufstieg des Bürgertums, das sich so manche imposante Villa in Aflenz erbauen ließ, und der Sommerfrische wurde aus der Hofalm die Bürgeralpe, die sich auch im Sommer ganz bequem per Lift erreichen lässt und sogar kinderwagentauglich ist. Urige Hütten stehen hier verstreut wie Kiesel. Eine davon gehört Regina und ihrem Mann Gustl. Bei einem der begehrten Kräuterseminare in dem hübschen Häuschen wird Honig mit Kren, Ingwer und Zitrone gegen Halskratzen vermischt, das Rezept – mit Augenzwinkern – für einen „Anti-Covid-Sirup“mit Schafgarbe und Thymian verraten, der sich auch im Glas Frizzante ganz hervorragend macht. Dann ein wohltuender Balsam für die Erkältungszeit gerührt und sogar ein kleiner Schluck vom Meisterwurz-Brand verkostet. Dieser wird von Gustl selbst destilliert, eine knifflige Angelegenheit. „Ein wahrer Meisterbrand“, sagt Regina und sieht ihren Gustl liebevoll von der Seite an.
Zeit für eine Belohnung. Dafür geht’s schnurstracks zur Almrauschhütte, direkt neben dem großen Abenteuerspielplatz für die Kinder. „Fedlkoch“steht heute auf der Karte, eine ebenso traditionsreiche wie eigenartige Süßspeise: Mehl oder Grieß wird mit Sauerrahm, Zimt und Nelken aufgekocht, abgekühlt, zu Knödeln geformt und mit der Krenreibe auf den Teller gerieben. Zucker und Zimt drüber, fertig. Ein frühes „Dessert to go“, wie Regina Müllner erklärt: „Die Schwoagerinnen, die Sennerinnen also, haben so den letzten Rahm vor dem Absiedeln ins Tal, dem sogenannten Fedln, verkocht.“
Wenn es nach den Aflenzern geht, müsste die Gnadenmutter von Mariazell in ihrer Gemeinde stehen. Denn der Mönch Magnus, der das Marienbild bei sich trug, sei ja immerhin über Aflenz nach Mariazell gewandert. Doch er ging weiter, und die „Magna Mater Austriae“, die seit 850 Jahren diese Region behütet, und ihre Basilika sind Wahrzeichen und Namensgeber von Mariazell und seit dem 12. Jahrhundert Ziel unzähliger Pilgerfahrten.
Die drittgrößte Gemeinde Österreichs hat vor allem eins: viel Natur rundherum. Daher, so Andreas Schweiger vom Mariazeller Land, habe man die „Mariazeller AUGENblicke“zusammengefasst, die zehn besten Platzerl rund um Mariazell mit Blick auf die Basilika. Dazu gibt’s Picknick-Packages und auch den genau einen Meter langen Wanderstock.
Doch es sind die Pilger, denen der Ort so vieles zu verdanken hat. „Der Proviant war nach dem langen Weg oft verdorben, daher hat mein Ururgroßvater 1883 begonnen, den Likör anzusetzen.“Cajetan Arzberger stellt also in bester Familientradition den original Mariazeller Magenlikör her. Aus 33 Kräutern, die er gern aufzählt. Nur die genaue Zusammensetzung ist geheim. Verkauft wird die flüssige Legende in den hübschen Flaschen im Retro-Look als halbsüße, klassisch herbere oder ganz bittere Version. Und neuerdings auch als „Onkel Sepp“, eine Mischung aus beiden.
Ein Erbe der Pilger ist auch der Lebkuchen als ideale Wegzehrung. Der Werdegang von der Biene bis zur fertigen Köstlichkeit, mit und ohne Mandeln, mit und ohne Schokolade, ist in Pirkers „ErLebzelterei“zu bestaunen. Ganz ohne Führung. Und mit ein bisschen Glück verziert der Konditor in der Schaubäckerei gerade eine Hochzeitstorte.
Auch in der Apotheke berichten die Edelbitter und Kräuterliköre von den Magenverstimmungen der Pilger. Ganz besonders der Ranti Putanti, dessen kurioser Name auf einen Briefträger zurückgeht, wie Angelika Riffel erzählt: „Beim Austragen der Post seufzte er immer: Ranti Putanti, s’Leben is’ hanti’.“Sie lacht. Schon während ihres Studiums hat sich die Apothekerin mit Pflanzen beschäftigt und bald herausgefunden, dass diese dort, wo sie wachsen, die beste Wirkung auf die Menschen vor Ort zeigen. Das brachte sie aus der Forschung zurück in die Apotheke. Und nicht in irgendeine. 1718 gegründet, ist die Mariazeller Apotheke mittlerweile Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, mit rund 100 Büchern aus dem Jahr 1831, alten Geräten und Verpackungen. Mit viel Respekt erzählt Angelika Riffel, dass man früher sehr gut über Heilpflanzen Bescheid wusste und über Form, Farbe und Geruch die Wirkung ableiten und sie so richtig einsetzen konnte. Bei Kindern ist das noch zu spüren: „Sie haben ein feines Gespür, was sie vertragen oder nicht, man sollte sie nicht zwingen, etwas zu essen, was sie nicht wollen.“Sie hat die alten Rezepte weiterentwickelt und an die heutige Zeit angepasst, macht viele individuelle Beratungen und hält Seminare und Vorträge auch auf der Paracelsus-Uni in Salzburg. „Es ist so viel am Markt, da ist die wissenschaftliche Grundlage sehr wichtig.“