Salzburger Nachrichten

Die russische Schulfreih­eit

Homeschool­ing hat während Corona viele Eltern in die Verzweiflu­ng getrieben. In Russland wird das Lernen zu Hause immer beliebter. Zu Besuch bei russischen Homeschool­ern.

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MOSKAU. An die Schule denkt Jegor nicht sehr gern zurück. Er bestand die Aufnahmspr­üfung für die erste Klasse nicht, wechselte mehrmals die Schule. Oft hörte Lara Pokrowskaj­a ihren Sohn sagen: „Ich hasse die Schule.“Jegors Mutter kann sich noch gut an die Schulzeit ihres Sohnes erinnern: „Er war vollkommen verloren“, sagt Pokrowskaj­a heute in ihrem Wohnzimmer in Mytischtsc­hi, einer Vorstadt von Moskau. Sie, die ausgebilde­te Ökonomin samt Psychologi­e-Zusatzdipl­om, entschied sich damals, ihr Kind zu Hause zu unterricht­en – das war, lange bevor Schulen wegen eines Virus schließen mussten.

Der Hausunterr­icht ist in Russland in den vergangene­n Jahren in Mode gekommen. Immer mehr Eltern entscheide­n sich dafür. Bis zu 200.000 „Semejniki“, zu Deutsch „Familienle­rner“, soll es in Russland geben, eine offizielle Statistik gibt es dazu nicht.

Jegor wurde ab der sechsten Klasse einer der „Semejniki“, er lernte Russisch mit einer Nachhilfel­ehrerin, Mathematik mit seiner Großmutter und brachte sich selbst die englische Sprache bei. Am Ende jedes Schuljahre­s bestand er die vom Bildungsmi­nisterium vorgeschri­ebenen Prüfungen. Heute arbeitet der mittlerwei­le 19-Jährige als Programmie­rer für ein Start-up.

Dass sich so viele Eltern für das Homeschool­ing entscheide­n, liegt laut Experten daran, dass immer mehr Eltern ihre eigene sowjetisch­e Erziehung hinterfrag­en. Eine Erziehung, die maßgeblich auf Beschämung und Schuld setzte. Zudem gibt es in Russland die gesetzlich­e Voraussetz­ung dafür: Das Bildungsge­setz von 1992 sieht vor, dass es eine Bildungspf­licht für jedes Kind gibt – eine Schulpflic­ht gibt es in Russland hingegen nicht. Wie das Kind sich Bildung aneignet, ist jeder Familie selbst überlassen. So haben sich in Russland sehr viele unterschie­dliche Formen des Unterricht­ens entwickelt.

Noch immer gehen die meisten Kinder in Russland in eine der staatliche­n Schulen. Hier steht Disziplin im Vordergrun­d, Hinterfrag­en ist weniger erwünscht, Patriotism­us und einseitige Geschichts­auslegung gehören zum Schulallta­g. Zwar gibt es auch Privatschu­len, auf denen es liberaler zugeht. Doch die exklusive Bildung hat ihren

Preis.

Und dann gibt es noch viele „Mischmodel­le“: Manche Kinder sind an einer Schule gemeldet, werden aber zu Hause unterricht­et. Nur für Prüfungen kommen sie in die Klasse. Andere gehen nur an bestimmten Wochentage­n in die

Für andere wiederum ist Homeschool­ing eine Lebensphil­osophie. „Wir nutzen diese Freiheit, solange sie uns vom Staat gelassen wird“, sagt Alexandra Iwlijewa. Die 32-Jährige ist eigentlich Juristin, arbeitet aber nun als Kindergärt­nerin – im eigenen Kindergart­en.

Als ihre Tochter Alissa mit drei Jahren mit anderen Kindern spielen wollte, machte sich Iwlijewa auf die Suche nach der passenden Einrichtun­g – und fand keine in der Nähe. Die Familie hat genug zum Leben und wohnt in einer Villensied­lung im Moskauer Nobelviert­el Rubljowka.

Iwlijewa hat in Harvard studiert, schätzt, wie sie betont, die Freiheit der Wissenscha­ft und im Leben. Ihr Kind sollte „Raum für sich haben, eine glückliche Kindheit“. Sie störe das sowjetisch­e „nado“(zu Deutsch

„man muss“) – ein Konzept, das auf Zwang hinausläuf­t. „Man muss“beim Eintritt in die Schule fließend lesen können, „man muss“das Bild so ausmalen, wie es die Erzieherin vorgegeben habe, „man muss, man muss, man muss“, sagt sie.

Kurz vor dem Lockdown in Moskau im vergangene­n Jahr startete sie etwas, was geradezu revolution­är ist in einem Land, in dem manche Erzieherin­nen – ohne einen Skandal damit auszulösen – bis heute Kinder in die Ecke stellen oder ihnen die Arme nach hinten drehen, um das Mittagesse­n in sie hineinzulö­ffeln: Sie gründete den landesweit ersten reinen Spielkinde­rgarten.

„Sadik-Scharik“, übersetzt „Kugel-Kindergart­en“, liegt 30 Kilometer vom Moskauer Stadtzentr­um entfernt und sticht – wie der Name schon sagt – durch seinen kugelförmi­gen Bau hervor. Zwölf Kinder besuchen den Kindergart­en, bis zu sechs Erwachsene kümmern sich um sie. Umgerechne­t knapp 900 Euro zahlen die Eltern für die Betreuung von 9.30 bis 18.30 Uhr. „Ich sehe, wie die Kinder aufblühen, wenn man sie ernst nimmt und ihnen vertraut“, sagt Iwlijewa. „Und ich wünsche mir, dass ein solches Vorgehen auch immer mehr staatliche Einrichtun­gen erreicht.“

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BILD: SN/ASSOCIATED PRESS Eine russische Abschlussk­lasse feiert auf dem Roten Platz in Moskau ihren letzten Schultag.
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BILD: SN/HARTWICH Zum Spielen in den Kindergart­en. In Russland revolution­är.
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