Ein Schrei gegen sich, das Publikum und die Welt
„Liebestod“mit Stier und Publikumsbeschimpfung: Extreme Uraufführung beim Festival in Avignon.
Besser als zum derzeit auch nachts arg hitzigen, von Zikadenzirpen und den Klängen unzähliger Musiker und Theatergruppen vibrierenden Avignon könnte Angélica Liddells neues Projekt nicht passen. In der – gut gekühlten – Opéra Confluence öffnet sich zunächst nur kurz der Vorhang, man sieht einen halb nackten Mann, der eine Reihe von Katzen an Leinen herumführt, die ebenso neugierig wie irritiert ins Publikum blicken.
Erst zum Finale, nach etwa zwei Stunden, kehren die Stubentiger zurück, in einem Glassarg, darin ein Körper. Ob es sich um Reste des berüchtigten Toreros Juan Belmonte handelt, auf die sich Liddell immer wieder bezieht? Belmonte lebte von 1892 bis 1962 und verstand den Stierkampf als religiösen Akt. Vielleicht soll auch eine Pietà auf ihn und seine Kollegen hinweisen, da nimmt die spanische Performerin in unglaublicher Zärtlichkeit einen behinderten Mann mit nur einem Bein und einem Arm in ihre Arme und auf ihre Schultern, er berichtet, dass er sechs Monate auf eine Prothese warten muss und ihm sein Leben zunehmend sinnlos erscheint.
Weiters tritt ein toter Stier auf, von dem sich Liddell ein Zeichen erhofft. Zum Vorspiel des dritten Aufzugs von Wagners „Tristan und Isolde“beschwört sie diesen tierischen Tristan, sehnt sich nach animalischer und spiritueller Verschmelzung.
Überhaupt spielt das spirituell Rituelle eine zentrale Rolle. In einer gewaltigen, ja gewalttätigen Rede ans Publikum – eher eine geschriene Anklage – wütet Liddell gegen eine Kunstauffassung diesseits und jenseits der Bühne, die sich nur noch um sich dreht, Boutiquenkunst, selbstreferenziell und ametaphysisch. Die Pariser Kultur(nachwuchs)elite etwa sorge sich einzig um Konsum, Geld, Macht. Fassungslos schreit Liddell ihre Empörung heraus, dass die Frage nach Religion, nach Gott nicht einmal als Frage mehr vorkommt.
Ihr Gegenmodell ist eine Theokratie, eine Rückkehr zur radikalen Religion, zur Rückbindung an archaische Formen. Und dafür steht der Stierkampf, nicht als blutiger Anachronismus, sondern als Anschluss an Transzendenz. Dabei schreit sich Liddell ihre Wut auch selbst ins Gesicht. Sie mache extreme Kunst, ihre Anhänger seien vor allem Schickimickis,
Schwule, die ihr dann gratulierten und erklärten, wie existenziell berührt sie seien. Zum Kotzen finde sie das.
Öfters gibt es im Publikum Unruhe, erstaunlicherweise jedoch nur bei den Schimpftiraden, nicht, als sich Liddell mit Blut beschmiert, in ihre Vagina greift, sich rote Flüssigkeiten aufs Brot schmiert und es genussvoll verzehrt. Das sich Verzehren nach Sinn, nach dionysischem Eros, nach extremer Sinnlichkeit durchzieht den Abend wie ein blutrotes Band. Wo sind die alten, neuen radikalen Künstler? Wo ist heute ein Antonin Artaud? Diese Antwort fällt leicht: Liddell ist die neue Artaud(e) – glücklicherweise ohne dem Wahnsinn des Erfinders des Theaters der Grausamkeit anheimzufallen. Zumindest bisher. Liddells neues Projekt ist ein Ereignis, eine Messe, eine schrille Meditation und ein Gegenmodell zu dem, was etwa ein Frank Castorf stundenlang brüllend-aufgekratzt auf der Bühne zelebriert, ohne annähernd solch eine Intensität zu erreichen.