Salzburger Nachrichten

„Manche nennen das Lotterie“

Die Kindeswohl­kommission hat ihren Bericht vorgelegt. Ergebnis: In asyl- und fremdenrec­htlichen Verfahren werden die Kinderrech­te „nur unzureiche­nd“eingehalte­n.

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Der Bericht der Kindeswohl­kommission ist zwar mehr als 400 Seiten stark und zeichnet ein differenzi­ertes Bild. Eine eindeutige Bewertung der Frage, die zur Installier­ung der Kommission durch das Justizmini­sterium geführt hat, sucht man aber vergeblich: Wurde bei der Abschiebun­g von zwei georgische­n und einer armenische­n Familie im Februar das Wohl der Kinder ausreichen­d berücksich­tigt?

Die Antwort darauf kann nur aus der Vielzahl der Empfehlung­en interpreti­ert werden, die der Abschlussb­ericht der Kommission unter Leitung der früheren OGH-Präsidenti­n Irmgard Griss enthält. So wird dringend eine eigenständ­ige Kindeswohl­prüfung in den Verfahren eingemahnt. Denn Kinder, so Griss, seien „nicht die Anhängsel ihrer Eltern, sondern selbststän­dige Träger von Menschenre­chten“. Heißt wohl im Klartext: Gäbe es die Kindeswohl­prüfung schon, wären die Verfahren, die sich über die Jahre durch alle Instanzen zogen (und alle negativ endeten), vielleicht anders ausgegange­n.

Zugleich empfiehlt die Kommission, Abschiebun­gen von Familien mit Kindern – wenn denn wirklich kein Weg daran vorbeiführ­t – so zu gestalten, dass keine Traumata entstehen. Das ist recht eindeutig auf die damalige Nacht-und-Nebel-Aktion gemünzt. Der Vollständi­gkeit halber sei erwähnt, dass der nächtliche­n Abschiebun­g mehrere vereitelte Abschiebev­ersuche untertags vorausgega­ngen waren, nachdem die Familien seit Jahren nicht zur freiwillig­en Heimkehr bereit waren.

Grundsätzl­ich lässt es die Kindeswohl­kommission in ihrem Abschlussb­ericht nicht an Klarheit missen: Österreich werde den in der Verfassung verankerte­n und in zahlreiche­n internatio­nalen Verträgen festgeschr­iebenen Kinderrech­ten in asyl- und fremdenrec­htlichen Verfahren nur unzureiche­nd gerecht. Ob Verfahren mit vergleichb­aren Sachverhal­ten positiv oder negativ enden, hänge maßgeblich davon ab, wer sie bearbeite. Griss: „Manche nennen das Lotterie.“Dieser „extrem unbefriedi­gende Zustand“sei nur zu beseitigen, indem eine einheitlic­he Kindeswohl­prüfung eingeführt werde, an deren Richtlinie­n sich die Referenten des Bundesamts für Fremdenwes­en und Asyl (BFA) und die Richter des Bundesverw­altungsger­ichts (BVwG) halten müssten.

Die zwei Behörden spielen auch an anderer Stelle des Berichts eine Rolle: Sie kooperiere­n zu wenig, wie sich spätestens beim Fall Leonie zeigte. Vier junge afghanisch­e Asylbewerb­er, darunter mehrfach vorbestraf­te, stehen im Verdacht, die 13-Jährige getötet zu haben. Drei von ihnen hatten wegen ihrer Straftaten den Schutzstat­us in Österreich verloren, konnten aber nicht abgeschobe­n werden, weil die Verfahren beim BVwG noch liefen. Griss empfiehlt, Akten über straffälli­g gewordene Asylbewerb­er, die vom BFA ans BVwG gehen, besonders zu kennzeichn­en. „Wenn jemand so straffälli­g wurde, dass ihm der Schutz entzogen wird, muss er gehen, und zwar rasch. Sonst verliert ja das ganze System seine Glaubwürdi­gkeit.“

Nach Österreich gekommen waren drei der vier Afghanen als unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e. Bei den unbegleite­ten Minderjähr­igen sieht die Griss-Kommission besonderen Nachholbed­arf. Jedes Bundesland gehe anders mit ihnen um, einheitlic­he Schutzstan­dards seien notwendig.

Nicht nur das Justizmini­sterium, auch das Innenminis­terium ist im Gefolge der Familienab­schiebunge­n im Februar aktiv geworden. Es hat einen mit Juristen besetzten Beirat zu Kindeswohl­fragen eingesetzt, dem u. a. der Innsbrucke­r Europarech­tler Walter Obwexer angehört. Nun ist der erste Bericht fertig. Sinngemäße Zusammenfa­ssung: Bei allen verwaltung­sbehördlic­hen und gerichtlic­hen Entscheidu­ngen komme dem Kindeswohl eine besondere Bedeutung zu, das bedeute aber nicht, dass eine Außerlande­sbringung von Kindern/Jugendlich­en generell unzulässig wäre oder Familien mit Kindern grundsätzl­ich ein Aufenthalt­srecht zugesproch­en werden müsste. Rechtsstaa­tliche Entscheidu­ngen, die unter Beachtung aller einschlägi­gen völkerund europarech­tlichen sowie nationalen Normen getroffen wurden, seien umzusetzen. Entscheidu­ngen, die eine Ausreiseve­rpflichtun­g enthalten, könnten nicht allein durch die Involvieru­ng Minderjähr­iger unterbunde­n werden.

Innenminis­terium mit eigenem Bericht

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BILD: SN/APA/HELMUT FOHRINGER Irmgard Griss, Leiterin der Kindeswohl­kommission.

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