„Fit for 55“: Der Entzug von Kohle, Öl und Gas
Es wird ernst mit dem Klimaschutz. Erstmals wird das Ausmaß des Wandels sichtbar.
Klimaschutz ist fixer Bestandteil von Sonntagsreden und Lippenbekenntnissen. Nun wird es ernst mit der Umsetzung. Die EUKommission legt ein gewaltiges Paket an Gesetzesvorschlägen vor. So soll es funktionieren.
Was bedeutet „Fit for 55“?
Die Europäische Union muss bis 2030 55 Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen – im Vergleich zu 1990. Darauf haben sich die 27 Mitgliedsstaaten und das EUParlament im ersten EU-Klimagesetz im April geeinigt. Nun folgen die Gesetzesvorschläge dazu, was jedes Land und jeder Wirtschaftssektor konkret beitragen muss.
Warum ist das überhaupt nötig?
Die Erderhitzung soll gestoppt werden. Das kann nur gemeinsam gelingen. Im UNO-Klimavertrag von Paris 2015 hat sich die internationale Gemeinschaft verpflichtet: Die durchschnittliche Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit soll auf zwei Grad beschränkt werden. Idealerweise sollte sie bei 1,5 Grad gestoppt werden. Das ist die Forderung der Wissenschaft.
Ohne „Fit for 55“schafft Europa seinen Beitrag nicht.
Was ändert sich durch „Fit for 55“?
Alles. Die Art, wie wir wohnen, fahren, produzieren, reisen, bauen, Wälder und Felder bewirtschaften. Derart massive Einsparungen der Treibhausgase sind ohne einschneidende Änderungen nicht möglich. Frans Timmermans, der für den Grünen Deal zuständige Kommissionsvize, wird die Reform von acht bestehenden EU-Gesetzen sowie fünf neue vorschlagen. Zusammen bilden sie das „Fit for 55“Paket. Es soll das Ende des fossilen Zeitalters – also des Verbrennens von Öl, Gas und Kohle – einläuten.
Wo steht Europa beim Klimaschutz?
Nicht bei null. Seit 1990 hat der Staatenbund in Summe bereits fast 30 Prozent an Treibhausgasen eingespart. Bleiben unter dem Strich noch 25 Prozent, die bis zum Ende dieses Jahrzehnts abgebaut werden müssen.
Also: Minus 30 Prozent sind in 30 Jahren gelungen, nun geht es um minus 25 in nur neun Jahren.
Wo steht Österreich?
Weit hinten. Deutschland etwa verbucht minus 40 Prozent Emissionen gegenüber 1990. Österreich dagegen hat – trotz des hohen Anteils an erneuerbarer Energie – seit 1990 noch gar nichts eingespart.
Das heißt: Österreich muss bis 2030 seine Treibhausgase um mehr als die Hälfte reduzieren, Deutschland nur noch um 15 Prozent.
Die Ursache für Österreichs schlechte Quote liegt hauptsächlich im Verkehr. Die ökosoziale Steuerreform und das Erneuerbare-Energien-Gesetz sollen die Wende beschleunigen.
Wie spart die EU Emissionen ein?
Es gibt zwei Wege. Der erste führt über das Emissionshandelssystem
ETS (Emission Trading System). Es deckt den Großteil der Industrie und des Energiesektors und damit rund 40 Prozent aller Treibhausgase ab.
Die restlichen 60 Prozent entfallen auf die Sektoren Verkehr, Landwirtschaft, Gebäude und Abfall. Sie werden von den Staaten der EU selbst geregelt.
Was ist der Emissionshandel?
Gehandelt werden CO2-Zertifikate. Jedes Zertifikat berechtigt zum Ausstoß einer Tonne CO2. Derzeit liegt der Preis bei mehr als 50 Euro. Die Menge der Zertifikate wird immer geringer, sie daher immer teurer.
Das soll einen Anreiz schaffen, den CO2-Ausstoß zu verringern: Vermeiden soll billiger sein als Verschmutzen.
Allerdings erhalten energieintensive Branchen wie die Stahl- und Zementindustrie die meisten Zertifikate gratis zugeteilt, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.
Zudem gab es bislang deutlich zu viele Zertifikate. Folge: Sie waren zu billig, um die Unternehmen zu einer Verhaltensänderung zu veranlassen.
Und der Rest der Wirtschaft?
Die Einsparungen bei Verkehr, Gebäuden, Landwirtschaft und Abfall teilen sich die EU-Staaten untereinander auf. Jedes Land hat eine eigene Einsparungsquote – die armen Länder eine niedrigere, die reichen eine höhere.
Österreichs aktuelle Quote: minus 36 Prozent im Vergleich zu 2005. Die Neuaufteilung der wesentlich ehrgeizigeren Einsparungen
von „Fit for 55“wird einer der größten Streitpunkte zwischen den ärmeren und reicheren Ländern werden.
Wo will die Kommission ansetzen?
Sie will das ETS-System reformieren. Die Menge der Zertifikate soll weiter verknappt werden, Gratiszertifikate sollen auslaufen. Für Verkehr und Gebäude soll ein eigenes ETS-System aufgebaut werden.
Was ist mit der Wettbewerbsfähigkeit?
Geplant ist eine CO2-Grenzabgabe für Importe vorerst in den Branchen Zement, Aluminium, Stahl, Strom und Düngemittel. Wer in die EU verkaufen möchte und klimaschädlich produziert, soll eine Abgabe zahlen, die sich am Preis für die CO2-Zertifikate orientiert. So soll Europas Industrie vor unfairem Wettbewerb geschützt werden.
Was geschieht mit den Autos?
Die Autobauer müssen sich auf drastisch strengere CO2-Grenzwerte gefasst machen. Das bedeutet de facto: Diesel- und Benzinfahrzeuge werden ab 2030 zunehmend von den Straßen verschwinden, was die Branche aber sowieso schon selbst weitgehend plant. Gleichzeitig ist der verpflichtende Ausbau eines Ladenetzes geplant.
Bleiben Flugzeuge und Schiffe ausgespart?
Nein. Für den Flugverkehr ist eine Kerosinabgabe geplant. Damit geht ein altes Steuerprivileg zu Ende. Die Abgabe soll aber nur für Flüge innerhalb der EU gelten.
Für Flugzeuge und Schiffe wird es eine verpflichtende und über die Jahre steigende Quote von grünem Treibstoff geben. Grüner Treibstoff stammt etwa aus Biomasse oder wird synthetisch mithilfe von erneuerbarer Energie hergestellt.
Werden Sprit und Heizen teurer?
Ja. Der Verbrauch fossiler Energien wird teurer und damit das Einsparen billiger. Wer ein E-Auto kauft oder seine Ölheizung austauscht, spart auf Sicht Geld.
Doch es gibt Bedenken vieler Länder, dass die Preissteigerungen vor allem Ärmere treffen, die sich einen Umstieg nicht oder erst dann leisten können, wenn E-Autos oder ein Heizungstausch günstiger sind als jetzt. Um das abzufedern, soll es einen Sozialfonds geben, der mit den Einkünften aus dem Emissionshandel befüllt werden soll.
Auf einen sozialen Ausgleich drängen vor allem Frankreich und Osteuropa.
Was geschieht, wenn nichts geschieht?
Noch mehr Hitzewellen und Unwetter. Immer weniger Schnee und Eis in den Bergen. Teile der Welt werden unbewohnbar. Die Migration wird steigen. Die Kosten dieser Entwicklung sind um ein Vielfaches höher als jeder Klimaschutz.
Was geschieht, wenn „Fit for 55“gelingt?
Die wichtigste Etappe ist geschafft. Es gibt eine gute Chance auf eine grüne, leise und saubere Zukunft für unsere Kinder und Enkel. Die Natur kann sich erholen. Die Erde bleibt im Wesentlichen, wie sie ist.