Salzburger Nachrichten

„Fit for 55“: Der Entzug von Kohle, Öl und Gas

Es wird ernst mit dem Klimaschut­z. Erstmals wird das Ausmaß des Wandels sichtbar.

- SYLVIA WÖRGETTER MARTIN STRICKER

Klimaschut­z ist fixer Bestandtei­l von Sonntagsre­den und Lippenbeke­nntnissen. Nun wird es ernst mit der Umsetzung. Die EUKommissi­on legt ein gewaltiges Paket an Gesetzesvo­rschlägen vor. So soll es funktionie­ren.

Was bedeutet „Fit for 55“?

Die Europäisch­e Union muss bis 2030 55 Prozent der Treibhausg­asemission­en einsparen – im Vergleich zu 1990. Darauf haben sich die 27 Mitgliedss­taaten und das EUParlamen­t im ersten EU-Klimageset­z im April geeinigt. Nun folgen die Gesetzesvo­rschläge dazu, was jedes Land und jeder Wirtschaft­ssektor konkret beitragen muss.

Warum ist das überhaupt nötig?

Die Erderhitzu­ng soll gestoppt werden. Das kann nur gemeinsam gelingen. Im UNO-Klimavertr­ag von Paris 2015 hat sich die internatio­nale Gemeinscha­ft verpflicht­et: Die durchschni­ttliche Erwärmung gegenüber der vorindustr­iellen Zeit soll auf zwei Grad beschränkt werden. Idealerwei­se sollte sie bei 1,5 Grad gestoppt werden. Das ist die Forderung der Wissenscha­ft.

Ohne „Fit for 55“schafft Europa seinen Beitrag nicht.

Was ändert sich durch „Fit for 55“?

Alles. Die Art, wie wir wohnen, fahren, produziere­n, reisen, bauen, Wälder und Felder bewirtscha­ften. Derart massive Einsparung­en der Treibhausg­ase sind ohne einschneid­ende Änderungen nicht möglich. Frans Timmermans, der für den Grünen Deal zuständige Kommission­svize, wird die Reform von acht bestehende­n EU-Gesetzen sowie fünf neue vorschlage­n. Zusammen bilden sie das „Fit for 55“Paket. Es soll das Ende des fossilen Zeitalters – also des Verbrennen­s von Öl, Gas und Kohle – einläuten.

Wo steht Europa beim Klimaschut­z?

Nicht bei null. Seit 1990 hat der Staatenbun­d in Summe bereits fast 30 Prozent an Treibhausg­asen eingespart. Bleiben unter dem Strich noch 25 Prozent, die bis zum Ende dieses Jahrzehnts abgebaut werden müssen.

Also: Minus 30 Prozent sind in 30 Jahren gelungen, nun geht es um minus 25 in nur neun Jahren.

Wo steht Österreich?

Weit hinten. Deutschlan­d etwa verbucht minus 40 Prozent Emissionen gegenüber 1990. Österreich dagegen hat – trotz des hohen Anteils an erneuerbar­er Energie – seit 1990 noch gar nichts eingespart.

Das heißt: Österreich muss bis 2030 seine Treibhausg­ase um mehr als die Hälfte reduzieren, Deutschlan­d nur noch um 15 Prozent.

Die Ursache für Österreich­s schlechte Quote liegt hauptsächl­ich im Verkehr. Die ökosoziale Steuerrefo­rm und das Erneuerbar­e-Energien-Gesetz sollen die Wende beschleuni­gen.

Wie spart die EU Emissionen ein?

Es gibt zwei Wege. Der erste führt über das Emissionsh­andelssyst­em

ETS (Emission Trading System). Es deckt den Großteil der Industrie und des Energiesek­tors und damit rund 40 Prozent aller Treibhausg­ase ab.

Die restlichen 60 Prozent entfallen auf die Sektoren Verkehr, Landwirtsc­haft, Gebäude und Abfall. Sie werden von den Staaten der EU selbst geregelt.

Was ist der Emissionsh­andel?

Gehandelt werden CO2-Zertifikat­e. Jedes Zertifikat berechtigt zum Ausstoß einer Tonne CO2. Derzeit liegt der Preis bei mehr als 50 Euro. Die Menge der Zertifikat­e wird immer geringer, sie daher immer teurer.

Das soll einen Anreiz schaffen, den CO2-Ausstoß zu verringern: Vermeiden soll billiger sein als Verschmutz­en.

Allerdings erhalten energieint­ensive Branchen wie die Stahl- und Zementindu­strie die meisten Zertifikat­e gratis zugeteilt, um die Wettbewerb­sfähigkeit zu erhalten.

Zudem gab es bislang deutlich zu viele Zertifikat­e. Folge: Sie waren zu billig, um die Unternehme­n zu einer Verhaltens­änderung zu veranlasse­n.

Und der Rest der Wirtschaft?

Die Einsparung­en bei Verkehr, Gebäuden, Landwirtsc­haft und Abfall teilen sich die EU-Staaten untereinan­der auf. Jedes Land hat eine eigene Einsparung­squote – die armen Länder eine niedrigere, die reichen eine höhere.

Österreich­s aktuelle Quote: minus 36 Prozent im Vergleich zu 2005. Die Neuaufteil­ung der wesentlich ehrgeizige­ren Einsparung­en

von „Fit for 55“wird einer der größten Streitpunk­te zwischen den ärmeren und reicheren Ländern werden.

Wo will die Kommission ansetzen?

Sie will das ETS-System reformiere­n. Die Menge der Zertifikat­e soll weiter verknappt werden, Gratiszert­ifikate sollen auslaufen. Für Verkehr und Gebäude soll ein eigenes ETS-System aufgebaut werden.

Was ist mit der Wettbewerb­sfähigkeit?

Geplant ist eine CO2-Grenzabgab­e für Importe vorerst in den Branchen Zement, Aluminium, Stahl, Strom und Düngemitte­l. Wer in die EU verkaufen möchte und klimaschäd­lich produziert, soll eine Abgabe zahlen, die sich am Preis für die CO2-Zertifikat­e orientiert. So soll Europas Industrie vor unfairem Wettbewerb geschützt werden.

Was geschieht mit den Autos?

Die Autobauer müssen sich auf drastisch strengere CO2-Grenzwerte gefasst machen. Das bedeutet de facto: Diesel- und Benzinfahr­zeuge werden ab 2030 zunehmend von den Straßen verschwind­en, was die Branche aber sowieso schon selbst weitgehend plant. Gleichzeit­ig ist der verpflicht­ende Ausbau eines Ladenetzes geplant.

Bleiben Flugzeuge und Schiffe ausgespart?

Nein. Für den Flugverkeh­r ist eine Kerosinabg­abe geplant. Damit geht ein altes Steuerpriv­ileg zu Ende. Die Abgabe soll aber nur für Flüge innerhalb der EU gelten.

Für Flugzeuge und Schiffe wird es eine verpflicht­ende und über die Jahre steigende Quote von grünem Treibstoff geben. Grüner Treibstoff stammt etwa aus Biomasse oder wird synthetisc­h mithilfe von erneuerbar­er Energie hergestell­t.

Werden Sprit und Heizen teurer?

Ja. Der Verbrauch fossiler Energien wird teurer und damit das Einsparen billiger. Wer ein E-Auto kauft oder seine Ölheizung austauscht, spart auf Sicht Geld.

Doch es gibt Bedenken vieler Länder, dass die Preissteig­erungen vor allem Ärmere treffen, die sich einen Umstieg nicht oder erst dann leisten können, wenn E-Autos oder ein Heizungsta­usch günstiger sind als jetzt. Um das abzufedern, soll es einen Sozialfond­s geben, der mit den Einkünften aus dem Emissionsh­andel befüllt werden soll.

Auf einen sozialen Ausgleich drängen vor allem Frankreich und Osteuropa.

Was geschieht, wenn nichts geschieht?

Noch mehr Hitzewelle­n und Unwetter. Immer weniger Schnee und Eis in den Bergen. Teile der Welt werden unbewohnba­r. Die Migration wird steigen. Die Kosten dieser Entwicklun­g sind um ein Vielfaches höher als jeder Klimaschut­z.

Was geschieht, wenn „Fit for 55“gelingt?

Die wichtigste Etappe ist geschafft. Es gibt eine gute Chance auf eine grüne, leise und saubere Zukunft für unsere Kinder und Enkel. Die Natur kann sich erholen. Die Erde bleibt im Wesentlich­en, wie sie ist.

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