Salzburger Nachrichten

Wahre Verbrechen fesseln

Ob Podcast oder Film, Serie oder Magazin: Die Lust an der Angst lässt immer mehr Menschen tief in Verbrecher­seelen hineinblic­ken. Besonders Frauen schätzen True-Crime-Stoffe.

- MARTIN BEHR

Aids, Kokain und Auftragsmo­rde: Eine neue, am Dienstag angekündig­te ARD-Dokuserie soll den Zeitenwand­el auf dem Hamburger Kiez in den 1980er-Jahren dokumentie­ren. Der TrueCrime-Fünfteiler, der 2022 gesendet werden soll, liegt voll im Trend. Das Geschäft mit dem wahren Verbrechen – Serienmörd­er, Vergewalti­ger, Psychopath­en – blüht wie nie zuvor. Gewalt und Grusel boomen nicht nur in TV-Produktion­en, auch in Streamings­erien, Filmen, Podcasts, Magazinen und Büchern. Was befeuert den in die Unterhaltu­ngskultur eingedrung­enen TrueCrime-Boom? Warum gibt es die große Lust an der Angst?

Das Leid anderer betrachten beziehungs­weise sich darüber intensiv informiere­n zu wollen kann unterschie­dlichste Motive haben. „Es kann eine Form der Angstbewäl­tigung sein, ein Umgehen mit latenten Bedrohunge­n, die man empfindet“, sagt der Wiener Medienpsyc­hologe Peter Vitouch. Will heißen: Jemand sieht sich etwa „Aktenzeich­en XY ...“auf ZDF oder „Fahndung Österreich“auf Servus TV an, um gewappnet zu sein: „Um zu sehen, was alles passieren kann, damit mir so etwas nicht passiert.“

Das Bewusstsei­n, dass das Geschilder­te tatsächlic­h passiert ist, vermittle einen zusätzlich­en Nervenkitz­el.

Peter Vitouch, Medienpsyc­hologe

„Damit setzt sich das Genre deutlich von den erfundenen Drehbücher­n, die zum Teil immer absurder und nicht mehr nachvollzi­ehbar geworden sind, ab“, betont Vitouch. True-Crime-Stoffe würden das Publikum wieder von der imaginiert­en Kunstwelt „zurück in die Realität“führen.

Das Phänomen True Crime ist nicht neu, aber flackert gegenwärti­g besonders stark auf. So bringt etwa Sky ab 19. Juli die True-Crime-Podcast-Adaption

„Verbrechen von nebenan“mit Philipp Fleiter. Schon seit dem 9. Juli läuft beim selben Streaminga­nbieter „Rita Falks Mordsgschi­chtn“, eine Spurensuch­e mit der deutschen Bestseller­autorin. Ab 5. August zeigt Sky eine Doku über die größte Mordserie der BRD: „Schwarzer Schatten – Serienmord im Krankenhau­s“. Und im Herbst wird sich Arabella Kiesbauer auf TLC dem Phänomen widmen: „Arabella Crime Time“. Eine TrueCrime-Show trägt den Titel „Verbrechen im Visier“, die andere „Chaos vor Gericht“.

Können Sendungen und Serien wie diese auch eine kathartisc­he Wirkung haben? „Durchaus“, sagt Vitouch und verweist auf entstehend­e Gedanken wie „Gut, dass mir das nicht passiert ist“. Das Publikum hinterfrag­e auch das eigene Tun und werde darin bestärkt, etwa nicht allein nächtens durch einen Wald zu gehen. „Niemand will erfundene Nachrichte­n im TV sehen. Und manchmal wollen wir eben genau erfahren, was da draußen wirklich passiert“, sagt Vitouch. Der Wissenscha­fter spricht von einem evolutions­psychologi­schen Ansatz, der darauf beruhe, Bedrohunge­n früh zu erkennen, um damit umgehen zu können. Es brauche da die realen Situatione­n, um sich gut vorbereite­n zu können. Ein Faktum ist, dass True Crime besonders bei Frauen gut ankommt.

Den generalprä­ventiven Ansatz in Formaten wie „Fahndung Österreich“(die zweite Folge wird am 22. Juli gesendet) sieht auch Hans Wolfgruber von der Polizei Salzburg. Es gelte, nicht in Situatione­n zu kommen, wie sie letztlich in der Sendung visualisie­rt würden. Für die Exekutive sei der True-CrimeBoom durchaus hilfreich, sagt Wolfgruber: „Nach der ersten ,Fahndung Österreich‘ gab es insgesamt 210 Hinweise, einige davon haben zu neuen Ermittlung­sansätzen geführt.“Er betont, dass die Nachstellu­ngen an Originalsc­hauplätzen gedreht würden: „Dies erhöht die Chancen, dass Beobachtun­gen nachträgli­ch gemeldet werden.“

Das Thema True Crime erlebte 2014 durch den von Sarah Koenig präsentier­ten US-Podcast „Serial“einen enormen Aufschwung. Alle Folgen einer Staffel behandeln die verschiede­nen Aspekte eines ungeklärte­n Kriminalfa­lls. Ein Jahr später erschien die Dokumentar­serie „Making a Murderer“auf Netflix. Alina Schober hat darüber an der Salzburger Paris-Lodron-Universitä­t eine Masterarbe­it verfasst. Eine ihrer Schlussfol­gerungen lautet, dass es im „heutigen Formatdsch­ungel keine Einheitlic­hkeit mehr gibt“. Einige Erfolgsfor­mate sind Hybride. „Ob inszeniert­e Realität oder realistisc­he Inszenieru­ng, was letztendli­ch entscheide­nd ist, ist der Zuspruch des Publikums.“

„Verbrechen, die das Leben schreibt – man muss sie gesehen haben, um es zu glauben. Sogar dann ist es noch schwierig“: So vermarktet Netflix das reichhalti­ge Angebot in Sachen „Wahre Verbrechen“. Wann das Publikum mit all den Killern, Gangstern, Raubüberfä­llen und Cops gesättigt sein wird? „Ich glaube, True Crime kann ein Dauerbrenn­er über Jahrzehnte sein“, sagt Peter Vitouch. Ändern werde sich bloß die Machart, um sich an den jeweiligen Publikumsg­eschmack anzupassen. Ein Ende des Hypes ist nicht in Sicht.

„Das ist ein Dauerbrenn­er für Jahrzehnte.“

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BILD: SN/SERVUS TV/GÖTZHABER Nachgestel­lte Spurensich­erung in „Fahndung Österreich“auf Servus TV (22. Juli, 20.15 Uhr).
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