Abkehr vom Inzidenzwert?
In Deutschland wird darüber nachgedacht, von der Sieben-Tage-Inzidenz abzurücken. Die Hospitalisierungsrate könnte wichtig werden. In Österreich sind die Voraussetzungen andere.
WIEN, BERLIN. Seit Tagen wabern in Deutschland Gerüchte, die Politik könnte der Sieben-Tage-Inzidenz mehr und mehr den Rücken kehren. Statt des Werts, der angibt, wie viele Personen sich pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen angesteckt haben, soll die sogenannte Hospitalisierungsrate in den Fokus rücken, um über Coronamaßnahmen zu entscheiden. Das soll aus einem internen Dokument des deutschen Robert-Koch-Instituts hervorgehen, berichten deutsche Medien. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach forderte etwa ein System, das Schutzmaßnahmen in Abstufung zu der jeweiligen Hospitalisierungsrate vorsehe, sagte er gegenüber der Zeitung „Die Welt“.
Aber wie ist die Lage in Österreich? Sollte man auch hierzulande über eine andere Gewichtung der Coronaindikatoren nachdenken?
Auch wenn häufig vom Inzidenzwert gesprochen wird – eine Kehrtwende könne es in Österreich nicht geben, sagt Niki Popper, Simulationsforscher der TU Wien. Anders als Deutschland habe Österreich von Beginn an auf verschiedene Werte bei den Überlegungen zu Eindämmungsmaßnahmen gesetzt. Die Ampelkommission, die vergangenen Sommer ins Leben gerufen wurde, setzte neben der Sieben-Tage-Inzidenz, den Clusterentstehungen und der Aufklärungsquote (also wie viele davon wirklich aufgefunden werden) auch auf die Hospitalisierungsrate.
Diese meint den Prozentsatz, wie viele Coronaerkrankte derzeit im Krankenhaus behandelt werden. „Das, was Deutschland nun diskutiert, haben wir vergangenes Jahr besprochen und so auch umgesetzt“, sagt Popper. Auch aus dem Gesundheitsministerium heißt es, dass von Beginn an auf verschiedene Indikatoren gesetzt wurde, um Coronamaßnahmen zu ergreifen.
Die Sieben-Tage-Inzidenz werde weiterhin ein Frühwarnindikator bleiben, um die Tendenz für die weitere Entwicklung der Coronalage abschätzen zu können, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. In den vergangenen Monaten sei sie ein guter Anhaltspunkt gewesen, um (mit zeitlicher Verzögerung) die Belegung in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen
zu erahnen. Für Entscheidungen wie die eines Lockdowns sei aber die Überlastung des Gesundheitssystems, also quasi die Hospitalisierungsrate, der entscheidende Faktor gewesen.
Im Vergleich zum vergangenen Sommer hat sich die Ausgangslage nun aber verändert. Die Delta-Variante ist zwar auf dem Vormarsch, aber die Impfrate steigt und jene, die sich infizieren, sind hauptsächlich junge Menschen. In anderen Ländern wie etwa Großbritannien zeigt sich, dass die Infektionszahlen nach oben gehen, die Hospitalisierungen aber in geringerer Relation ansteigen als etwa im Vorjahr. Man könne derzeit jedoch nur schwer abschätzen, ob diese besseren Entwicklungen lediglich auf die Impfung oder auch auf soziale Effekte zurückzuführen sind, heißt es dazu aus dem Gesundheitsministerium. In jedem Fall werde man hierzulande genau beobachten, wie sich die Hospitalisierungsrate parallel zu den steigenden Zahlen entwickle.
Auch Experte Popper blickt in diese Richtung. „Dass die Zahlen weiter ansteigen, ist fix“, sagt er. Die Frage sei nur, wie schlimm sich das auf die Belegung der Krankenhäuser auswirke. „Eine Überlastung des Gesundheitssystems halte ich für eher unwahrscheinlich.“Man müsse aber bedenken, dass der Anteil der Geimpften nicht gleichmäßig verteilt sei. „In manchen Bevölkerungsgruppen sind 95 Prozent geimpft, in anderen nur sehr wenige.“Deshalb solle man weiterhin mit Vernunft vorgehen: „Wenn ich heute von einer Maturareise zurückkomme, würde ich noch immer dazu raten, in den folgenden Tagen nicht sofort die ungeimpfte Großmutter zu besuchen.“
Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte erst vor wenigen Tagen mit der Aussage aufhorchen lassen, dass sich die Pandemie von einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem wandle. „Ich glaube aber, dass es noch sehr wichtige Teilprobleme gibt“, sagt Popper. Etwa, wie man mit jenen umgehe, die nicht geimpft werden können, weil sie krank seien oder es für diese Gruppe noch keinen zugelassenen Impfstoff gebe. Oder aber, wie man mit ungeimpftem Krankenhauspersonal umgehe. Die jetzige Diskussion in anderen Ländern um eine Impfpflicht etwa für den Gesundheitsbereich sei jedoch kontraproduktiv. „Das kostet uns einige Prozent Durchimpfung – bei jenen, die vielleicht gerade noch unentschlossen sind.“