Jedermann Lars Eidinger schlägt zu
Lars Eidinger ist ein ernsthafter Jedermann in einer neuen Inszenierung, die zwischen Passionsspiel und Mystery-Movie siedelt.
Die neue Inszenierung des „Jedermann“bei den Salzburger Festspielen ist eine starke Teamleistung mit einem ernsthaften, vielschichtigen Lars Eidinger in ihrem Zentrum.
SALZBURG. Jedermann nuschelt und brüllt. Nur in rotem Höschen. Er fetzt und rockt, schmust und hadert, trägt hippieesk, oder doch heiligenscheinartig?, „flowers in the hair“und einmal einen goldenen Anzug, mit dem er auch in einer Schlagershow auftreten könnte. Er kniet halb nackt. Er kuschelt mit der Mama und scheißt sich vor dem Tod an. Mehr hatte ein Salzburger Jedermann noch selten zu tun.
Ach ja, er schlägert sogar mit dem armen Schuldknecht in einem echten Boxring. Für all das ist Lars Eidinger, der neue Salzburger Jedermann, genau der Richtige. Warum? Weil er es kann.
Gut, können kann man das als Schauspieler. Die Kunst beim Salzburger „Jedermann“besteht eher darin, es so zu können, dass es in diesem Kasperltheater einen Sinn ergibt. Was da heuer zu sehen ist, wendet sich ab vom Gewohnten. Das könnte Ärger geben, in dieser Jeder-redet-mit-Theaterwelt, wo Voreingenommenheit und Erwartungshaltung groß sind. Eidingers Präsenz macht schnell klar: Das Kasperltheater sind auch das Publikum und eine Welt, die gierig zusieht beim Sterben. Auf der Bühne wird das Kasperltheater dieses Mal in der Bildsprache neu zusammengebaut. Bunt und zeitgemäß, denn dieser Jedermann ist mehr „wir“als seine Vorgängerversionen: Leider geil. Leider?
„Leider geil“heißt ein Song der Band Deichkind, mit der Eidinger immer wieder zusammenarbeitet. Im Song ist „Leider geil“bezogen auf Dinge, die umweltfeindlich oder auch politisch unkorrekt sein mögen, aber – leider geil halt – dann gut zum Leben dieses Jedermanns passen. Ja, es passt auch gut zur jährlichen „Jedermann“-Show überhaupt. Die Geschichte des Erlösungstheaters, seit 1920 zum nationalen Kulturinventar und zur sicheren Einnahmequelle der Salzburger Festspiele geworden, ist überfrachtet von Geschichte und Klischees. Dieses erdrückend Katholische! Das Beten! Die Austauschbarkeit der Besetzung! Die Schwuppdiwupp-Erlösung! Ein ewiges Theater um dieses Theater! Manchmal wehte ein frisches Lüftchen – als vor 19 Jahren Christian Stückl alles neu machte, und ein bisschen auch bei Julian Crouch und Brian Mertes (2013).
Heuer aber bläst ein Sturm, der vieles wegfegt, was war, und trotz Tradition und Society-Rundherum zum Denken bringen kann. Also: Leider geil, was ausgehend von einer quasi komplett neuen Besetzung, da hingestellt wird. Denn in der Inszenierung von Michael Sturminger kommt auch der größte Zweifel am Stück selbst nicht an gegen eine trendige, aber eben doch raffinierte Neudeutung.
Diese von Musikalität und vor allem Teamgeist bestimmte Inszenierung lässt das alte Stück sein, wie es ist. Das hindert nicht daran, Bewegungen mitschwingen zu lassen, die in der Gesellschaft Wellen schlagen: Gender-Diskussion, Ende des Patriarchats,
Selbstverliebtheit, Selbstvermarktung – und so also mehr als je zuvor eine bittere Gewissheit, dass wir alle dieser reiche Mann/Mensch sind, dessen Ende wir da zuschauen.
Schade ist nur, dass es regnet. Darum muss die Premiere im Festspielhaus stattfinden. Das ist bitter, erst recht, weil alles neu ist und der Domplatz stets glänzende Kulisse für Einzigartigkeit bietet. Leider nein. Womöglich hat sich der Wettergott noch einmal stellvertretend für alle Himmelsmächte gegen eine neue Ordnung gewehrt. Gott ist ja erstmals eine Göttin, gespielt von Mavie Hörbiger. Dem Himmel wegen des Regens solche Macht zuzurechnen wäre dann aber unverschämt katholisch gedacht. Die Reue, die in Todesgewissheit nach einem turbokapitalistischen Leben
Abgesang auf eine Welt, die nur auf Macht basiert
erfolgt, ist an diesem Abend nämlich weniger eine Läuterung auf Basis eines Glaubensbekenntnisses als ein Einsehen, eine Vernunft, eine innere Einkehr.
Die Stille, in die Eidinger seine Figur am Ende versenkt, wirkt eher wie ein letztes Nachdenken, ja wie eine Entschuldigung für Tausende Jahre Männlichkeit, ein poetischer Abgesang auf eine vergiftete Welt, die bloß auf Macht basiert und nie aus Empathie wächst. Dass Eidinger dann Jesus-nackt in einem Bild, das aussieht wie Michelangelos Pietà, in den Schoß des Todes sinkt, ist halt ein schönes Bild fürs Sterben aus dem Fundus ewiger Erinnerungsbilder der Kunstgeschichte. Das gehört zu mehreren Bildern, die in dieser Inszenierung an Stationsbilder bei Passionsspielen erinnern. Bisweilen erinnert die Szenerie – etwa als der Glaube (Kathleen Morgeneyer) als androgynes, alienhaftes Wesen auftaucht – an Figuren aus Weltraumabenteuern, dann wieder an Mystery-Action.
Die Gegenwärtigkeit allerdings, mit der eine neue Ordnung erbaut wird, ist fein gesponnen. Und zwar ganz wörtlich. Denn was in dieser „Jedermann“-Inszenierung an gesellschaftlicher Relevanz mitschwingt, äußert sich auch in den Kostümen. Da verschwimmen Identitätsund Geschlechtsspezifika. Jedermann mit Brüsten, Buhlschaft mit Hose (zum zweiten Mal nach 2019), vieles bunt und grell wie beim Pride-Superevent Song Contest. Und so bekommen die Worte bei der Spielansage eine neue Dimension: „Der Stoff ist kostbar von dem Spiel/dahinter aber liegt noch viel.“Alles geht und alles fließt in einer Welt, die neuerdings Diversität als Mainstream feiert.
Ach so, der alte Text? Ohne Strich, aber mit jedem Beistrich und Nebensatz wird der Text von Hugo von Hofmannsthal auf die Bühne gebracht. Nichts ist anbiedernd modernisiert, nichts mundgerecht hergedichtet, nur Bertolt Brechts „Morgenchoral für Jedermann“als Ergänzung. Es gibt keine unseligen Eigentext-Experimente wie die von Tobias Moretti. Also der Text in purer Form. Kennen Sie doch! Oder? Na gut: selbstgefälliger, reicher Arschlochtyp wird zur finalen Rechnung gerufen, der EidingerProtzer als Symbol für eine aus dem Ruder laufende Welt aus Gier und Rücksichtslosigkeit und Konsumrausch. Und es steht grad ein Festl an. Baby, lass uns tanzen! Der Vulkan, auf dem es passiert, wird schon nicht ausbrechen. Aber ein Drama braucht halt eine Wende. Also
Bestimmt lebendig ist die Buhlschaft früh da
kommt aus dem Nichts der Tod, der im wirklichen Leben Edith Clever heißt und sanft, aber unausweichlich streng seinen Auftrag erfüllt. Denn klar ist: Einzige Konstante im Leben ist der Tod, das lässt die Party platzen. Freunde hauen der Reihe nach ab. Jedermann allein. Dann tauchen allegorische Figuren, die einen hämisch und schadenfroh, die anderen mit dem Angebot auf Rettung. Und hier greift ein guter Trick dieser Inszenierung: Rollen werden im Kollektiv aufgelöst. Es gibt zahlreiche Doppelrollen – etwa der akrobatisch beeindruckende Mirco Kreibich als Schuldknecht und Mammon. Die guten Werke gibt es gar nicht mehr als Einzelrolle. Das Ensemble der Tischgesellschaft, gerade noch bunte Partymeute, jetzt graue, kriechende Siechende, teilt sich den Text der Werke. Sie bleiben letzte Begleiter von Jedermann und sehen aus wie Gestalten eines Endzeitfilms. Der Teufel (in Doppelrolle mit Gott: Mavie Hörbiger) tut dann noch sein Letztes, um noch einmal Herrschaft über den Mann zu bekommen, aber: „Hier ist kein Weg.“Die Teufelin bloß eine Witzfigur.
Eidingers Jedermann, hart und zart zugleich, beichtet oder büßt nicht in Hofmannsthal’schem Sinn. Er schafft es, ein bisserl lätschert manchmal wie einer, der weiß, dass er verlieren wird, aber dabei immer akkurat im Spiel und hoch motiviert, einen Typen darzustellen, der tatsächlich einsieht, dass seine Zeit – und damit wohl auch die Ära von Männern seinesgleichen – vorbeigeht. Gleichzeitig wird die lebendige Buhlschaft (Verena Altenberger) nicht als armes, besorgtes, ergebenes Hascherl gezeigt. Dass sie – und auch die bedenkenvolle Mutter (Angela Winkler) – immer öfter das Sagen hat, wird mit der größten Überraschung der Inszenierung erzählt. Als dominante, leidenschaftliche Buhlschaft taucht Altenberger weit früher auf, als der Text es vorsähe. Sie kommt gemeinsam mit Jedermann, sitzt auf seinen Schultern – reitet oder unterdrückt ihn oder erhebt sich über ihn?! Ihr Umhang verdeckt seinen Kopf. Er fängt zu reden an und sie bewegt dazu ihre Lippen und sagt schließlich auch einige seiner Verse. Später, nachdem Jedermann und Buhlschaft ein letztes Mal ihre Liebe ausgekostet haben und sie nicht mit ihm ins Ende gehen will, sieht man, dass Eidingers Jedermann nicht nur dem ganz großen Abschied eine eigene Sprache verleiht. Schon bei den kleineren Abschieden, wenn niemand mit ihm gehen will, reagiert er nicht wie viele Vorgänger mit der arroganten Fassungslosigkeit eines mächtig Alleingelassenen, sondern mit purer Resignation. Da zeigt einer, wie es ist, wenn alles bröckelt und sich das mit dem Leben nicht mehr ausgeht.
Vor ein paar Tagen hat Eidinger dazu den passenden Song auf Instagram geteilt: „Love Will Tear Us Apart“von Joy Division. Ein bittersüßer Song über die Macht der Liebe, die auch zerstören kann. Zufall, dass der Spieler genau dieses neuen Jedermanns, eines Rabauken, Zweiflers und Versunkenen gleichermaßen, so einen Song in die Welt schickte? Egal wie: Leider geil. Nach diesem Abend, an dem – angeführt von Eidinger – dieser oft belächelte, oft verdammte „Jedermann“mit der Welt Kontakt bekommt, kann man Zufall ausschließen. Bei Eidinger stampfte das Publikum vor Begeisterung. Für alle anderen gab es heftigen Applaus.