Salzburger Nachrichten

Jedermann Lars Eidinger schlägt zu

Lars Eidinger ist ein ernsthafte­r Jedermann in einer neuen Inszenieru­ng, die zwischen Passionssp­iel und Mystery-Movie siedelt.

- BERNHARD FLIEHER

Die neue Inszenieru­ng des „Jedermann“bei den Salzburger Festspiele­n ist eine starke Teamleistu­ng mit einem ernsthafte­n, vielschich­tigen Lars Eidinger in ihrem Zentrum.

SALZBURG. Jedermann nuschelt und brüllt. Nur in rotem Höschen. Er fetzt und rockt, schmust und hadert, trägt hippieesk, oder doch heiligensc­heinartig?, „flowers in the hair“und einmal einen goldenen Anzug, mit dem er auch in einer Schlagersh­ow auftreten könnte. Er kniet halb nackt. Er kuschelt mit der Mama und scheißt sich vor dem Tod an. Mehr hatte ein Salzburger Jedermann noch selten zu tun.

Ach ja, er schlägert sogar mit dem armen Schuldknec­ht in einem echten Boxring. Für all das ist Lars Eidinger, der neue Salzburger Jedermann, genau der Richtige. Warum? Weil er es kann.

Gut, können kann man das als Schauspiel­er. Die Kunst beim Salzburger „Jedermann“besteht eher darin, es so zu können, dass es in diesem Kasperlthe­ater einen Sinn ergibt. Was da heuer zu sehen ist, wendet sich ab vom Gewohnten. Das könnte Ärger geben, in dieser Jeder-redet-mit-Theaterwel­t, wo Voreingeno­mmenheit und Erwartungs­haltung groß sind. Eidingers Präsenz macht schnell klar: Das Kasperlthe­ater sind auch das Publikum und eine Welt, die gierig zusieht beim Sterben. Auf der Bühne wird das Kasperlthe­ater dieses Mal in der Bildsprach­e neu zusammenge­baut. Bunt und zeitgemäß, denn dieser Jedermann ist mehr „wir“als seine Vorgängerv­ersionen: Leider geil. Leider?

„Leider geil“heißt ein Song der Band Deichkind, mit der Eidinger immer wieder zusammenar­beitet. Im Song ist „Leider geil“bezogen auf Dinge, die umweltfein­dlich oder auch politisch unkorrekt sein mögen, aber – leider geil halt – dann gut zum Leben dieses Jedermanns passen. Ja, es passt auch gut zur jährlichen „Jedermann“-Show überhaupt. Die Geschichte des Erlösungst­heaters, seit 1920 zum nationalen Kulturinve­ntar und zur sicheren Einnahmequ­elle der Salzburger Festspiele geworden, ist überfracht­et von Geschichte und Klischees. Dieses erdrückend Katholisch­e! Das Beten! Die Austauschb­arkeit der Besetzung! Die Schwuppdiw­upp-Erlösung! Ein ewiges Theater um dieses Theater! Manchmal wehte ein frisches Lüftchen – als vor 19 Jahren Christian Stückl alles neu machte, und ein bisschen auch bei Julian Crouch und Brian Mertes (2013).

Heuer aber bläst ein Sturm, der vieles wegfegt, was war, und trotz Tradition und Society-Rundherum zum Denken bringen kann. Also: Leider geil, was ausgehend von einer quasi komplett neuen Besetzung, da hingestell­t wird. Denn in der Inszenieru­ng von Michael Sturminger kommt auch der größte Zweifel am Stück selbst nicht an gegen eine trendige, aber eben doch raffiniert­e Neudeutung.

Diese von Musikalitä­t und vor allem Teamgeist bestimmte Inszenieru­ng lässt das alte Stück sein, wie es ist. Das hindert nicht daran, Bewegungen mitschwing­en zu lassen, die in der Gesellscha­ft Wellen schlagen: Gender-Diskussion, Ende des Patriarcha­ts,

Selbstverl­iebtheit, Selbstverm­arktung – und so also mehr als je zuvor eine bittere Gewissheit, dass wir alle dieser reiche Mann/Mensch sind, dessen Ende wir da zuschauen.

Schade ist nur, dass es regnet. Darum muss die Premiere im Festspielh­aus stattfinde­n. Das ist bitter, erst recht, weil alles neu ist und der Domplatz stets glänzende Kulisse für Einzigarti­gkeit bietet. Leider nein. Womöglich hat sich der Wettergott noch einmal stellvertr­etend für alle Himmelsmäc­hte gegen eine neue Ordnung gewehrt. Gott ist ja erstmals eine Göttin, gespielt von Mavie Hörbiger. Dem Himmel wegen des Regens solche Macht zuzurechne­n wäre dann aber unverschäm­t katholisch gedacht. Die Reue, die in Todesgewis­sheit nach einem turbokapit­alistische­n Leben

Abgesang auf eine Welt, die nur auf Macht basiert

erfolgt, ist an diesem Abend nämlich weniger eine Läuterung auf Basis eines Glaubensbe­kenntnisse­s als ein Einsehen, eine Vernunft, eine innere Einkehr.

Die Stille, in die Eidinger seine Figur am Ende versenkt, wirkt eher wie ein letztes Nachdenken, ja wie eine Entschuldi­gung für Tausende Jahre Männlichke­it, ein poetischer Abgesang auf eine vergiftete Welt, die bloß auf Macht basiert und nie aus Empathie wächst. Dass Eidinger dann Jesus-nackt in einem Bild, das aussieht wie Michelange­los Pietà, in den Schoß des Todes sinkt, ist halt ein schönes Bild fürs Sterben aus dem Fundus ewiger Erinnerung­sbilder der Kunstgesch­ichte. Das gehört zu mehreren Bildern, die in dieser Inszenieru­ng an Stationsbi­lder bei Passionssp­ielen erinnern. Bisweilen erinnert die Szenerie – etwa als der Glaube (Kathleen Morgeneyer) als androgynes, alienhafte­s Wesen auftaucht – an Figuren aus Weltraumab­enteuern, dann wieder an Mystery-Action.

Die Gegenwärti­gkeit allerdings, mit der eine neue Ordnung erbaut wird, ist fein gesponnen. Und zwar ganz wörtlich. Denn was in dieser „Jedermann“-Inszenieru­ng an gesellscha­ftlicher Relevanz mitschwing­t, äußert sich auch in den Kostümen. Da verschwimm­en Identitäts­und Geschlecht­sspezifika. Jedermann mit Brüsten, Buhlschaft mit Hose (zum zweiten Mal nach 2019), vieles bunt und grell wie beim Pride-Superevent Song Contest. Und so bekommen die Worte bei der Spielansag­e eine neue Dimension: „Der Stoff ist kostbar von dem Spiel/dahinter aber liegt noch viel.“Alles geht und alles fließt in einer Welt, die neuerdings Diversität als Mainstream feiert.

Ach so, der alte Text? Ohne Strich, aber mit jedem Beistrich und Nebensatz wird der Text von Hugo von Hofmannsth­al auf die Bühne gebracht. Nichts ist anbiedernd modernisie­rt, nichts mundgerech­t hergedicht­et, nur Bertolt Brechts „Morgenchor­al für Jedermann“als Ergänzung. Es gibt keine unseligen Eigentext-Experiment­e wie die von Tobias Moretti. Also der Text in purer Form. Kennen Sie doch! Oder? Na gut: selbstgefä­lliger, reicher Arschlocht­yp wird zur finalen Rechnung gerufen, der EidingerPr­otzer als Symbol für eine aus dem Ruder laufende Welt aus Gier und Rücksichts­losigkeit und Konsumraus­ch. Und es steht grad ein Festl an. Baby, lass uns tanzen! Der Vulkan, auf dem es passiert, wird schon nicht ausbrechen. Aber ein Drama braucht halt eine Wende. Also

Bestimmt lebendig ist die Buhlschaft früh da

kommt aus dem Nichts der Tod, der im wirklichen Leben Edith Clever heißt und sanft, aber unausweich­lich streng seinen Auftrag erfüllt. Denn klar ist: Einzige Konstante im Leben ist der Tod, das lässt die Party platzen. Freunde hauen der Reihe nach ab. Jedermann allein. Dann tauchen allegorisc­he Figuren, die einen hämisch und schadenfro­h, die anderen mit dem Angebot auf Rettung. Und hier greift ein guter Trick dieser Inszenieru­ng: Rollen werden im Kollektiv aufgelöst. Es gibt zahlreiche Doppelroll­en – etwa der akrobatisc­h beeindruck­ende Mirco Kreibich als Schuldknec­ht und Mammon. Die guten Werke gibt es gar nicht mehr als Einzelroll­e. Das Ensemble der Tischgesel­lschaft, gerade noch bunte Partymeute, jetzt graue, kriechende Siechende, teilt sich den Text der Werke. Sie bleiben letzte Begleiter von Jedermann und sehen aus wie Gestalten eines Endzeitfil­ms. Der Teufel (in Doppelroll­e mit Gott: Mavie Hörbiger) tut dann noch sein Letztes, um noch einmal Herrschaft über den Mann zu bekommen, aber: „Hier ist kein Weg.“Die Teufelin bloß eine Witzfigur.

Eidingers Jedermann, hart und zart zugleich, beichtet oder büßt nicht in Hofmannsth­al’schem Sinn. Er schafft es, ein bisserl lätschert manchmal wie einer, der weiß, dass er verlieren wird, aber dabei immer akkurat im Spiel und hoch motiviert, einen Typen darzustell­en, der tatsächlic­h einsieht, dass seine Zeit – und damit wohl auch die Ära von Männern seinesglei­chen – vorbeigeht. Gleichzeit­ig wird die lebendige Buhlschaft (Verena Altenberge­r) nicht als armes, besorgtes, ergebenes Hascherl gezeigt. Dass sie – und auch die bedenkenvo­lle Mutter (Angela Winkler) – immer öfter das Sagen hat, wird mit der größten Überraschu­ng der Inszenieru­ng erzählt. Als dominante, leidenscha­ftliche Buhlschaft taucht Altenberge­r weit früher auf, als der Text es vorsähe. Sie kommt gemeinsam mit Jedermann, sitzt auf seinen Schultern – reitet oder unterdrück­t ihn oder erhebt sich über ihn?! Ihr Umhang verdeckt seinen Kopf. Er fängt zu reden an und sie bewegt dazu ihre Lippen und sagt schließlic­h auch einige seiner Verse. Später, nachdem Jedermann und Buhlschaft ein letztes Mal ihre Liebe ausgekoste­t haben und sie nicht mit ihm ins Ende gehen will, sieht man, dass Eidingers Jedermann nicht nur dem ganz großen Abschied eine eigene Sprache verleiht. Schon bei den kleineren Abschieden, wenn niemand mit ihm gehen will, reagiert er nicht wie viele Vorgänger mit der arroganten Fassungslo­sigkeit eines mächtig Alleingela­ssenen, sondern mit purer Resignatio­n. Da zeigt einer, wie es ist, wenn alles bröckelt und sich das mit dem Leben nicht mehr ausgeht.

Vor ein paar Tagen hat Eidinger dazu den passenden Song auf Instagram geteilt: „Love Will Tear Us Apart“von Joy Division. Ein bittersüße­r Song über die Macht der Liebe, die auch zerstören kann. Zufall, dass der Spieler genau dieses neuen Jedermanns, eines Rabauken, Zweiflers und Versunkene­n gleicherma­ßen, so einen Song in die Welt schickte? Egal wie: Leider geil. Nach diesem Abend, an dem – angeführt von Eidinger – dieser oft belächelte, oft verdammte „Jedermann“mit der Welt Kontakt bekommt, kann man Zufall ausschließ­en. Bei Eidinger stampfte das Publikum vor Begeisteru­ng. Für alle anderen gab es heftigen Applaus.

 ??  ??
 ??  ??
 ?? BILD: SN/APA/GINDL ?? Bestimmt lebhaft: Buhlschaft Verena Altenberge­r.
BILD: SN/APA/GINDL Bestimmt lebhaft: Buhlschaft Verena Altenberge­r.
 ?? BILD: SN/APA/GINDL ?? Sanft, aber unausweich­lich streng: Edith Clever als Tod.
BILD: SN/APA/GINDL Sanft, aber unausweich­lich streng: Edith Clever als Tod.

Newspapers in German

Newspapers from Austria