Cannes: Mit Auto-Erotik zu Palmengold
Der wildeste Wettbewerbsbeitrag hat die Jury überzeugt: Regisseurin Julia Ducournau ist große Gewinnerin der Filmfestspiele in Cannes.
CANNES. Gar nichts ist hier wie gewohnt: Die Goldene Palme von Cannes ging an „Titane“, einen wüsten Genrefilm über eine genderqueere Erotiktänzerin mit Maschinenfetisch. Doch nicht nur deswegen wird die Festivalausgabe von 2021 in die Geschichte eingehen. „Titane“-Regisseurin Julia Ducournau ist die erste Regisseurin, die in 74 Jahren den höchsten Preis in Cannes allein gewonnen hat. Ihre einzige weibliche Vorgängerin Jane Campion teilte sich 1993 die Goldene Palme für „Das Piano“mit Chen Kaige für „Lebewohl, meine Konkubine“.
„Titane“war der wildeste Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Ausgabe, ein monströser, schwelgerisch sinnlicher Horrorfilm, der von der auf Autoshows strippenden Psychopathin und Serienkillerin Alexia (gespielt von Agathe Rousselle) handelt.
Auf der Flucht beschließt Alexia, sich als vor Jahrzehnten verschollener junger Mann auszugeben, und landet in den Armen von dessen Vater, dem Feuerwehrhauptmann Vincent (Vincent Lindon), der den verlorenen Sohn fürsorglich aufnimmt. Doch Alexia hatte vor ihrer Flucht Sex in einem Auto, was zu einer grundsätzlichen Veränderung ihres Körpers führt und die Monstrosität auf die Spitze treibt.
Ducournau hat den Film „für Vincent Lindon“geschrieben, wie sie im SN-Interview sagt. Er spielt den Feuerwehrhauptmann als einen, der die Trauer um seinen Sohn mit hartem Training und Anabolika unter Muskelbergen zu begraben versucht und für den die vermeintliche Rückkehr alles bedeutet. „Es ist mir egal, wer du bist“, sagt er spät im Film, und selten war eine Liebeserklärung so radikal.
„Titane“ist ein wüster, abstoßender, begeisternder Film, laut, stressig, gewalttätig und sich seiner Wurzeln in einem Genrekino etwa von David Cronenberg genau bewusst, Ducournau beschreibt die Überhöhung der Realität im Horrorfilm als tröstlich: „Horrorfilme sind das Versprechen einer Welt, in der der Tod gutartig sein kann.“Die Entscheidung für „Titane“ist eine, an der Jurymitglied Jessica Hausner nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte, nach ihren eigenen Filmen zu schließen hat sie viel übrig für formal rigides Kino mit Nähe zum Genre.
Es war der letztlich einzig mögliche Siegerfilm für ein Festival, das unter den Vorzeichen einer feierlichen Rückkehr des Kinos gestanden hatte, tatsächlich nun aber mitten in der vierten Pandemiewelle endet. Dieses Ende begleiteten laute Vorwürfe von Verantwortungslosigkeit, was die Kontrolle von CovidMaßnahmen betrifft, mit immer dramatischeren, durchsickernden Infektionszahlen aus dem festivaleigenen Testzentrum.
Dass viele Filmvorführungen vor Presse- und Branchenpublikum in nur im Parterre freigegebenen Sälen stattgefunden hatten, offenbar um den Eindruck großen Andrangs zu wecken, anstatt das Publikum mit Abstand auch auf Balkonplätze zu verteilen, dürfte an den Ansteckungen zumindest Anteil gehabt haben.
Vielleicht hatte Jurypräsident Spike Lee von all dem auch schon genug, als er irrtümlich am Samstagabend gleich zu Beginn der Preiszeremonie die „Goldene Palme“-Gewinnerin verkündete, und erst danach die anderen Preise bekannt gab, etwa an Caleb Landry Jones für die Titelrolle eines Amokläufers in dem australischen Film „Nitram“, den er mit brodelndem Blick und irritierender Zartheit spielt, an die norwegische Schauspielerin Renate Reinsve in Joachim Triers „The Worst Person in the World“. Außerdem wurden Hamaguchi Ryusuke und Takamasa Oe für das Drehbuch der Haruki-Murakami-Adaption „Drive my Car“ausgezeichnet, sowie Leos Carax als bester Regisseur für den Eröffnungsfilm „Annette“– Carax hatte übrigens die Zeremonie unter der Angabe von Zahnweh boykottiert.
Gleich beide Jurypreise gingen ex aequo an zwei Filme, der „Große Preis der Jury“an Asghar Farhadis iranisches Sozialdrama „A Hero“und „Compartment No. 6“des Finnen Juho Kuosmanen, und der „Jurypreis“an Nadav Lapids „Ahed’s Knee“und Apichatpong Weerasethakuls „Memoria“. Damit können von den 24 Wettbewerbsfilmen immerhin neun Filme mit einem Preis heimgehen, was eher für eine Jury spricht, die sich in vielen Fällen uneins war.
Das Fazit dieses 74. Festivals von Cannes fällt mit sehr viel Bauchweh aus: So erfreulich die Juryentscheidung für einen dermaßen provokanten Film wie „Titane“ist, so wenig hat Festivalpräsident Thierry Frémaux der Branche mit seiner filmischen Habsucht einen Gefallen getan. Das Festival von Venedig im September wird es wieder besser machen.