Bei den Japanern herrschen Verdruss und Ablehnung
Viele Einheimische in Tokio stört, dass die Olympischen Spiele trotz steigender Coronazahlen durchgezogen werden.
Kiyoshi Shigematsu ist auf die Olympischen Spiele in seiner japanischen Heimat nicht gut zu sprechen. „Wenn die schon stattfinden sollen, warum sagen sie dann nicht, warum es das wert sein soll?“, beklagt der Schriftsteller in der japanischen Tageszeitung „Mainichi Shimbun“. Die Organisatoren und das Internationale Olympische Komitee (IOC) würden ständig beteuern, die Spiele seien trotz der andauernden Coronapandemie auch für die Bevölkerung sicher. „Ob sie sicher sind, entscheiden wir. Nicht die Veranstalter“, so Shigematsu. Wenn er in den Nachrichten höre, es gebe Anzeichen für einen erneuten Aufwärtstrend bei den Infektionen, mache ihn das sauer. „Wie, Anzeichen? Nein, sie steigen an!“
So wie Shigematsu, der an sich immer Interesse an Olympischen Spielen hatte, geht es kurz vor Beginn der Spiele in seiner Heimat vielen seiner Landsleute. Die anfängliche Begeisterung ist Verdruss, Gleichgültigkeit und teils sogar Feindseligkeit gewichen. „Viele Leute sind immer noch ungläubig, dass die Spiele tatsächlich stattfinden“, schildert Politikprofessor Koichi Nakano von der Sophia University Tokio die Stimmung in der Bevölkerung wenige Tage vor der Eröffnungsfeier. In Japan sei die AntiOlympia-Bewegung nie stark gewesen. „Japaner sind allgemein sehr opportunistisch und apolitisch und meiden gewöhnlich politisch sensible Themen“, erklärt Nakano. „Jetzt aber sagen sie unverhohlen: ,Meine Güte, was tun die da?!‘“
Von Vorfreude ist auf den Straßen Tokios denn auch wenige Tage vor Beginn des Spektakels nichts zu spüren. Die ganze Krise hindurch hat sich Japans Bevölkerung bereitwillig an die Corona-Verhaltensregeln gehalten, was der wesentliche Grund ist, dass Japan bislang im internationalen Vergleich noch gut dasteht. Der Staat hat nie einen
Lockdown verhängt. Doch nun macht sich Müdigkeit breit. Viele fragen sich, warum sie sich die ganze Zeit zurückhielten, während die Regierung trotz aller Sorgen und des breiten Widerstands in der Bevölkerung die Olympischen Spiele durchzieht. Auch das sei ein Grund, warum die Spiele in Japan so unpopulär seien, so Nakano.
Dabei wollte Japan mit den Spielen einen nationalen Neuanfang einleiten, wie schon mit den ersten Spielen in der Stadt 1964. Auch die Spiele 2020 sollten dem Wiederaufbau dienen, diesmal von der Dreifachkatastrophe 2011 aus Erdbeben, Tsunami und Atomunfall in Fukushima. Mit dem Ausschluss aller ausländischen und heimischen Fans werden es sterile Fernsehspiele werden. So hatten sich die Japaner das nicht vorgestellt. Und das traut sich mancher inzwischen auch zu sagen.
Mit dem Zuschauerverbot wollen die Veranstalter sicherstellen, dass sich das Coronavirus nicht weiter ausbreitet. Doch die Zahl der Infektionen ist in letzter Zeit wieder deutlich gestiegen. Dass es nun die ersten Fälle im Athletendorf gibt, ist Wasser auf den Mühlen der Kritiker, die seit Langem vor einer Ausbreitung des Virus durch die Spiele warnen. Zumal ein Großteil der japanischen Bevölkerung noch nicht geimpft ist.
Bislang berichten einreisende Olympiateilnehmer wie Journalisten, freundlich empfangen zu werden. Politikprofessor Nakano sieht dennoch ein Risiko, dass Ausländer zu Sündenböcken werden, sollte sich die Lage verschlechtern. Allgemein tendierten Japaner dazu, höflich, zurückhaltend und nicht so aggressiv zu sein. Zugleich aber werde in den Medien das Bild vermittelt, Ausländer seien gefährlich. Obwohl die meisten Olympiateilnehmer geimpft sein sollten, im Gegensatz zu den meisten Japanern, gebe es ein „tiefes Misstrauen“.