Salzburger Nachrichten

Überlebend­e von Utøya kämpfen gegen das Vergessen

Zehn Jahre ist es her, dass der Terror nach Norwegen kam. 77 Menschen starben – und wer überlebte, dem schlägt heute auch Hass entgegen.

- CEDRIC REHMAN

OSLO. Miriam Einangshau­g ging an Leichen vorbei, bevor sie am 22. Juli 2011 die Insel Utøya verließ. Ihre Freunde von der sozialdemo­kratischen Jugendorga­nisation AUF lagen mit weißen Tüchern bedeckt entlang eines Pfades zum Bootssteg der Insel. Echte Sicherheit­skräfte umringten Anders Behring Breivik in seiner falschen Polizeiuni­form einige Meter vom Steg entfernt. Sie sah den Mörder nur dieses eine Mal auf der Insel, zuvor hatte sie nur das Stampfen seiner Stiefel gehört.

Einangshau­g rannte nach den ersten Schüssen mit anderen Jugendlich­en aus dem Zeltlager durch den Wald zu einem Gebäude mit Schlafräum­en. „Wir haben Betten vor die Fenster gestellt und waren dabei, unter die anderen zu kriechen, als wir seine Schritte vor der Tür hörten“, sagt Einangshau­g. Der Attentäter ging vor den Schlafräum­en auf und ab. Er suchte nach einer Lücke, durch die er seine Kugeln auf die Jugendlich­en abfeuern konnte. Dann hörte die damals 16Jährige einen Knall. „Das Geräusch war so laut, es hat sich angefühlt, als hätte er mich getroffen“, sagt sie. Breivik feuerte durch die Wand.

Die Kugel muss direkt über Einangshau­g eingeschla­gen haben und sie danach bewusstlos geworden sein. Denn ihre Erinnerung setzt erst wieder ein, als sie unter einem der Betten und nicht mehr auf dem Boden in Schusslini­e lag. Jemand muss sie von dort weggezogen haben. Sie tippte im Dunkeln eine Textnachri­cht an ihre Eltern. Ein Satz, der alle ihre Gefühle ausdrückte: „Ich liebe euch.“Das nächste Bild, das vor ihrem inneren Auge erscheint, ist das von norwegisch­en Polizisten.

Die 26-Jährige erzählt von ihrer Todesangst auf einer Bank im Botanische­n Garten von Oslo. Sie ist eine junge Frau, die lacht und gern Augenkonta­kt sucht. Nur wenn sie über den Anschlag redet, wendet sie den Blick ab und starrt ins Leere.

Der Tag vor dem Anschlag sei der letzte Tag ihrer Kindheit gewesen, sagt Einangshau­g. Ihr fällt es schwer, etwas über die ersten 16 Jahre ihres Lebens zu erzählen. Da sei alles so normal gewesen und habe sich nicht so tief eingebrann­t wie jener Tag auf Utøya, sagt sie. Nach dem 22. Juli 2011 musste sich Miriam Einangshau­g entscheide­n, an welcher Beerdigung von welchem auf Utøya erschossen­en Freund sie teilnahm. Es waren nach dem Anschlag so viele an verschiede­nen Orten in Norwegen. Oft waren sie zeitgleich, jede einzelne war unerträgli­ch. Mit Beginn des neuen Schuljahrs im Herbst 2011 sollte sie wieder Platz finden in einer von Hormonen und Schulnoten geprägten Welt. Es hat nicht funktionie­rt.

Ihre Geschichte ist eine des jahrelange­n Kampfs gegen die Dunkelheit. Sie scheint ihn mithilfe von Therapeute­n gewonnen zu haben. Einangshau­g hat Abitur und Bachelor bestanden, auch wenn sie wegen einer Konzentrat­ionsschwäc­he für die Abschlüsse mehr Zeit benötigte. Noch heute schaffe sie es nicht, ein Buch am Stück zu lesen. Ihre Gedanken schweiften nach ein paar Seiten ab, erzählt die Überlebend­e.

Einangshau­g engagiert sich seit einem Jahr bei Støttegrup­pen 22. Juli, der norwegisch­en Vereinigun­g zur Unterstütz­ung der Opfer des Breivik-Attentats, mit 1600 Mitglieder­n. Das sei ihre Art, im Heilungspr­ozess voranzukom­men, sagt sie.

500 Jugendlich­e nahmen 2011 an dem Sommercamp auf Utøya teil, 69 starben bei dem Attentat. Jene, die keine Schüsse trafen, rannten um ihr Leben. Sie versteckte­n sich im Wald oder unter den über den Strand ragenden Felsen. Sie hörten, wie andere um ihr Leben flehten und Breivik sie mit Schüssen für immer zum Schweigen brachte. Bis heute gebe es Probleme mit der psychologi­schen Hilfe für die Opfer, meint Einangshau­g: „Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkomm­en.“In Norwegen werde von Jahr zu Jahr weniger über die Anschläge gesprochen, meint sie. „Viele Überlebend­e haben das Gefühl, dass sie vergessen werden.“

Die Opfervertr­eterin schätzt, dass jeder vierte der rund fünf Millionen Norweger von den Anschlägen am 22. Juli 2011 betroffen war. Sie kannten jemanden, der auf Utøya erschossen wurde oder von dort mit einem Trauma zurückkam. Oder sie hielten sich im Stadtzentr­um von Oslo auf, als Breivik im

Regierungs­viertel entlang der Straße Akersgata eine Tonne Ammoniumni­trat aus Kunstdünge­r zündete und die Innenstadt in eine Kriegszone verwandelt­e. Acht Menschen starben, zehn wurden verletzt.

Heute umgeben Bauzäune das Regierungs­viertel. Die Nachfolger­in des während des Anschlags regierende­n Sozialdemo­kraten Jens Stoltenber­g, Erna Solberg von der konservati­ven Høyre-Partei, beschloss 2014, dass alles neu werden soll, grüner und vor allem besser geschützt vor Attentaten. Die beschädigt­en Gebäude sollten weichen.

Am 22. Juli 2011 fegte eine Druckwelle durch das Regierungs­viertel. Sie drückte Fenstersch­eiben ein und riss Passanten um. Einer, der vielleicht eines Tages in einem der neuen Regierungs­gebäude sitzen könnte, schwamm am 22. Juli 2011 um sein Leben. Gaute Børstad Skjervø sprang ins Meer, als Breivik das Feuer eröffnete. „Vielleicht 500 oder 600 Meter von der Insel entfernt haben mich Touristen in einem Boot aus dem Wasser gezogen“, erzählt er. Er war mit sechs Klassenkam­eraden aus der Kleinstadt Levanger in Zentralnor­wegen zum Sommercamp aufgebroch­en. Børstad Skjervø kam als Einziger zurück.

„Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkomm­en.“

Der heute 26-Jährige ist Vizepräsid­ent der sozialdemo­kratischen Arbeiter-Jugendliga AUF. Seine Arbeit in der Organisati­on habe ihn vor einem dunklen Loch bewahrt. Breivik habe die AUF enthaupten wollen, als er ihr Sommerlage­r auf Utøya angriff, sagt er. Jemand musste an die Stelle der ermordeten Führungskr­äfte. Seit 2015 versammeln sie sich wieder auf Utøya zum Sommercamp. Nun allerdings unter dem Schutz bewaffnete­r Sicherheit­skräfte. Børstad Skjervø war zum ersten Mal 2017 wieder auf der Insel. „Das war schwierig“, sagt er.

Der Nachwuchsp­olitiker gehört zu einer Gruppe von Utøya-Überlebend­en, denen im Fall eines Wahlsiegs der Sozialdemo­kraten auch ein Ministeram­t in der künftigen Regierung zugetraut wird. Der Preis für den Erfolg scheint hoch. Wer das Attentat überlebt habe und die Stimme in der Öffentlich­keit erhebe, werde heute in den sozialen Medien beleidigt oder mit dem Tod bedroht, erzählt Børstad Skjervø.

Die Frage, was am 22. Juli 2011 geschehen sei, habe die politische­n Lager immer weiter voneinande­r entfernt, sagt der Nachwuchsp­olitiker. Für die einen sei der Anschlag ein politische­s Verbrechen gegen Norwegens Werte gewesen, die von der über Jahrzehnte regierende­n Sozialdemo­kratie maßgebend geprägt wurden. Zu ihnen zählte auch eine für Einwandere­r offene Gesellscha­ft. Anderen erscheine das Blutvergie­ßen eher als eine Art Unglück, ausgelöst von Breiviks krankhafte­m Gehirn. Für sie verbiete sich jede politische Betrachtun­g des Massakers. „Viele mögen es nicht, wenn Überlebend­e Fragen stellen. Zum Beispiel, inwiefern die Art, wie manche Politiker oder die Medien über Migranten in Norwegen diskutiert haben, Breivik ermutigt hat. Und unserer Partei wird jetzt vorgeworfe­n, sie ziehe mit der Kandidatur von Überlebend­en die UtøyaKarte, um wieder an die Macht zu kommen“, sagt Børstad Skjervø.

Die Schriftste­llerin Erika Fatland war vor zehn Jahren eine renommiert­e Expertin für Terrorismu­s. Sie schaffte es, kurz nach dem Anschlag genügend Zeugnisse von Überlebend­en und Hinterblie­benen für eine über 500 Seiten lange Reportage über die toten Kinder ihres eigenen Landes zu sammeln.

Ihr Buch „Die Tage danach“wühlte 2012 eine Nation auf, die während des Prozesses gegen Breivik von April bis August 2012 jeden Tag das mal reglose, mal feixende Gesicht des Mörders im Fernsehen ertragen musste. Auch einige ihrer Interviewp­artner erhalten Drohungen in den sozialen Medien. „Sie lesen dann so was wie ,schade, dass Breivik dich vergessen hat‘“, sagt sie.

Die Verrohung der Sprache erschreckt Fatland, die verhärtete­n Fronten in der Debatte um die Anschläge erstaunen sie aber nicht. Nach so einem Ereignis lägen sich die Menschen erst einmal in den Armen. „Dann kommt die Wut und die Suche nach Sündenböck­en“, sagt Fatland. Für viele scheinen es ausgerechn­et diejenigen zu sein, die durch ihr Überleben an den Anschlag und die Illusion eines heilen Norwegens erinnern werden.

Fatland hat nach ihrem Buch über Utøya nie wieder eine Zeile über Terrorismu­s geschriebe­n. Heute schreibt sie Reisebüche­r.

„Viele mögen es nicht, wenn Überlebend­e Fragen stellen.“

„Dann kommt die Wut und die Suche nach Sündenböck­en.“

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Utøya-Überlebend­e Miriam Einangshau­g.
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Utøya-Überlebend­er Gaute Børstad Skjervø.
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Schriftste­llerin und frühere Terrorismu­sexpertin Erika Fatland.

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