Zeitenende und Totenbeschwörung
Zwei außergewöhnliche Konzerte der Ouverture spirituelle durchmaßen Zeiträume von über 400 Jahren.
Das „Quartett vom Ende der Zeit“von Olivier Messiaen ist nicht nur seines biografischen Hintergrunds wegen von ergreifender Wirkung. 1940 war der französische Komponist als Infantrist in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Im Stammlager bei Görlitz wurde er von einem Wachmann mit Notenpapier versorgt und schrieb ein „bescheidenes, kleines Trio“für Klarinette, Violine und Cello, weil Mitinsassen gerade diese Instrumente beherrschten. Auf einem verstimmten Klavier erweiterte Messiaen das Stück zum Quartett und dehnte es zu einer achtsätzigen, nach eigenen Aussagen von der Offenbarung des Johannes geprägten Komposition von fast einstündiger Dauer.
Mit einem herkömmlichen „Quartett“ist das packende Werk nicht vergleichbar, und es braucht naturgemäß schon wegen seiner ungewöhnlichen Besetzung vier Solisten, die sich zum Ensemble vereinigen müssen. Die Aufführung am Dienstag im Mozarteum, Teil der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele, hatte bestmögliche Interpreten zur Verfügung, voran Jörg Widmann, der seiner Klarinette
– keine Neuigkeit und dennoch jedes Mal verblüffend(er) – die wunderzärtlichsten Töne entlocken kann. Allein wie er einen Ton aus dem Nichts auftauchen und sich über eine endlose Weile wie auf einem Atem entfalten lässt, ist ein Erlebnis metaphysischer Natur. Nicolas Altstaedt macht sein Cello ebenfalls dem höchst ausdifferenzierten Ausdruck dienstbar, spannt eine Melodie mit selbstverständlicher Eleganz, dass man sich nachgerade versenken kann in „reinen“Klang. Francesco Piemontesi, kurzfristig für Alexander Lonquich eingesprungen, ist vielleicht nicht wie dieser ein „Nervenmusiker“, dafür ein kraftvoll die pianistische Kontrolle haltender und zugleich kammermusikalisch inspirierter Partner. Und Alina Ibragimova weiß die Violinstimme mit brillanter Intensität zu integrieren und am Ende noch die innere Energie aufzubringen, ihre „Lobpreisung“buchstäblich in den Himmel entschweben zu lassen.
Was für ein Kontrast zur spätabendlich in der Kollegienkirche ausgebreiteten, mit existenzieller Wucht „detonierenden“Auferstehungsbeschwörung „Et exspecto resurrectionem mortuorum“, die
Olivier Messiaen 1965 für eine Armada aus Holz- und Blechbläsern und metallenes Schlagzeug als eine Art Glockenschläge aus der Ewigkeit zu einer fünfsätzigen „Symphonie“aus monumental gemeißelten Klangblöcken und irisierenden Farben formte. Mehr noch: Eine dritte Dimension war in der eindrucksvollen Wiedergabe durch das Klangforum Wien und den souverän disponierenden Dirigenten Pablo HerasCasado zu erleben. Zu Klangsymbolik und Farbe kam die überwältigende Wirkung des Raums und erinnerte explizit daran, dass das Werk, das privat uraufgeführt wurde, eigentlich für die Sainte-Chapelle in Paris entstanden war.
Wie beziehungsreich die Programme der Ouverture spirituelle gestaltet sind, offenbarte sich durch ein thematisch stringentes Werk von schlichter Intensität, das 500
Jahre vor Messiaens „Et exspecto“entstanden ist: das zwischen polyphoner Strenge und magischem Licht fast mystisch oszillierende Officium defunctorum, das Stundengebet
für die Toten, von Cristobál de Morales, das – von den elf wie schwebenden Männerstimmen und dem dunkel-feierlichen Bläsersatz der Capella Reial de Catalunya und „Hespèrion XXI“unter Jordi Savall mit größter Autorität und zugleich wunderbarer Freiheit getragen – eine ganz eigene Aura der Totenbeschwörung evozierte.
Dem „Quatuor pour la fin du temps“vorgeschaltet waren die drei Streichquartett-Sätze „Different Trains“von Steve Reich, die mehr sind als „minimal music“: eine Kompilation schicksalhafter Verstrickung im Spannungsfeld von Freiheit und Diktatur, motorisch getriebene, auf Sprachzeugnisse von Zeitzeugen rhythmisierte Eisenbahnreisen zwischen New York und Los Angeles, gegengeschnitten zum Europa des Zweiten Weltkriegs, in dem die Züge nach Sobibór, Theresienstadt oder Auschwitz ganz andere Ziele hatten. Politische Musik, die immer neu zum Nachdenken anregt, Assoziationsräume öffnet, vom Ensemble Meta4 mit hohem Engagement gespielt.
Das Publikum: hochkonzentriert, gefordert und, hörbar am Applaus, zum Äußersten bewegt. So müssen Festspiele sein.