Europas Blick auf die Bundestagswahl
Der Ausgang der deutschen Wahl könnte die Machtbalance in der Europäischen Union massiv ändern.
Was die Abstimmung in Berlin verändern könnte und wie sich das auf die Nachbarn auswirken würde.
16 Jahre Angela Merkel. Da wusste man in Brüssel, woran man war: Verlässlichkeit für viele Jahre. Und nun, da die deutsche Bundeskanzlerin nicht mehr antritt? Nun blickt Brüssel gespannt nach Berlin und fragt, was sich am Sonntag durch die Bundestagswahl ändern könnte für Europa.
Der erste Blick auf die zwei Männer und die eine Frau, die sich um das Kanzleramt bewerben, fällt aus Brüsseler Sicht beruhigend aus.
Armin Laschet (CDU) hat wie zum Nachweis seiner Europa-Leidenschaft sogar eine goldfarbene Statue von Karl dem Großen in seinem Arbeitszimmer stehen. Der Ministerpräsident von NordrheinWestfalen wurde in Aachen geboren, fünf Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Die deutsch-französische Achse hat er verinnerlicht.
Ein alter Bekannter in Brüssel ist Olaf Scholz (SPD). Als deutschem Finanzminister kam ihm eine Schlüsselrolle zu, als es darum ging, die Kosten der Pandemie zu stemmen – in Deutschland ebenso wie im Zusammenspiel mit den EU-Kollegen im Rat.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock würde ihre erste Auslandsreise als Bundeskanzlerin in die EUHauptstadt führen. So hatte sie das jedenfalls geplant, als die Umfragen gut für sie standen und das Amt in greifbarer Nähe schien.
Alle drei Bewerber um das Kanzleramt stehen also fest zum europäischen Projekt. Dennoch ist es nicht einerlei, wer das Rennen macht. Was, wenn die SPD, in Umfragen vor CDU/CSU, mit Olaf Scholz den Bundeskanzler stellt?
„Das hätte eine deutliche Auswirkung auf die Machtbalance in der EU“, konstatiert Olaf Wientzek. Seit Jahren analysiert der Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung die Parteienlandschaft in Europa und erstellt in regelmäßigen Abständen ein Parteienbarometer.
Würde sich Deutschland auf der politischen Landkarte rot einfärben, verlören die in der Europäischen Volkspartei (EVP) versammelten Christdemokraten und Mitte-rechts-Parteien ihre wichtigste Bastion in Europa. In diesem Szenario blieben den Konservativen nur mittlere und kleine EU-Staaten.
„Keiner der fünf großen Mitgliedsstaaten wäre dann von einem EVP-Regierungschef geführt“, erklärt Wientzek. In Madrid steht der Sozialist Pedro Sánchez an der Spitze der Regierung; in Paris sitzt Präsident Emmanuel Macron, der dem liberalen Spektrum zuzuordnen ist, im Élysée-Palast; in Rom lenkt der Parteilose Mario Draghi eine Konzentrationsregierung; und in Warschau heißt der Regierungschef Mateusz Morawiecki von der nationalpopulistischen und europakritischen PiS-Partei.
Deutschland ist mit 83 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der EU, auch das mit der stärksten Wirtschaftskraft. Es ist also von entscheidender Bedeutung, wer es im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs vertritt. Auf EU-Gipfeln fallen letztlich die ganz großen Entscheidungen – vom Budget bis zum CoronaWiederaufbaufonds, von Sanktionen gegen Russland bis zum Klimaschutz.
Zwar bleibt die Europäische Volkspartei die stärkste Fraktion im EU-Parlament, worauf auch Wientzek hinweist. In der politischen Landschaft der EU aber entstünden mit einer SPD-geführten Koalition in Deutschland drei etwa gleich große Gruppen von Ländern, die konservativ, sozialdemokratisch oder liberal geführt werden.
Und noch etwas fällt auf beim Blick auf die Europa-Karte: Ginge Deutschland für die CDU/CSU verloren, „wäre Österreich das westlichste Land mit EVP-Führung“, sagt Wientzek. Wobei Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) das Land europapolitisch weit stärker nach Zentral- und Osteuropa gerückt hat als seine Vorgänger.
Olaf Scholz inszeniert sich in Stil und Auftreten als Merkel-Kopie. Kontinuität ist die Botschaft. Aber gilt das auch für die EU-Politik?
Die Sozialdemokraten im EUParlament fordern zum Beispiel, dass der Corona-Wiederaufbaufonds Schule machen und die gemeinsame Schuldenaufnahme ein dauerhaftes Instrument werden solle. Scholz hat angedeutet, dass er sich das vorstellen kann. Das wäre nach Merkels Zustimmung zum zeitlich befristeten Schuldenmachen eine weitere Zäsur in der deutschen EU-Politik.
Genaueres weiß man nicht. Denn im deutschen Wahlkampf kommt Europa nicht vor.