Die Gaskrise spitzt sich zu: Briten legen Vorräte an
Schlachtbetrieben in Großbritannien droht das Kohlendioxid zur Betäubung der Tiere auszugehen.
JOCHEN WITTMANN
Kohlendioxid ist als Klimakiller verpönt, aber in der Lebensmittelindustrie ist das Gas ein wichtiger Stoff, um Sprudel oder Dosenbier herzustellen, Backwaren zu verarbeiten, Kühlware zu transportieren oder Fleischverpackungen vakuumdicht zu versiegeln. In Schlachtbetrieben dient CO2 auch zur Betäubung der Tiere.
In Großbritannien wird es gerade knapp. Auf den traditionellen Truthahnbraten müssen viele Briten heuer zu Weihnachten womöglich verzichten. Massiv gestiegene Preise für Gas führen zu einem Mangel an Kohlendioxid und bringen britische Fleischhersteller zunehmend in Bedrängnis. „Ein Drei-WochenDeal wird Weihnachten nicht retten“, sagte der Geschäftsführer der Supermarktkette Iceland, Richard Walker, am Mittwoch. „Wir brauchen eine permanente Lösung, um die Auslieferung von frischen Nahrungsmitteln sicherzustellen.“
Hintergrund des CO2-Mangels ist, dass der amerikanische Betreiber CF Industries zwei seiner Düngemittelfirmen in Nordengland wegen der stark gestiegenen Gaspreise vorübergehend geschlossen hat. Die Produktion ist derzeit nicht rentabel. Das Kohlendioxid, das die Lebensmittelbranche so dringend braucht, fällt aber als Nebenprodukt ebendieser Düngemittelherstellung an.
Die Regierung von Boris Johnson hat CF Industries eilig zugesagt, drei Wochen lang einen Teil der Fixkosten des Unternehmens zu übernehmen. Dies werde wohl Dutzende Millionen Pfund kosten, sei aber nötig, sagte der britische Umweltminister George Eustice dem TVSender Sky News. CF Industries stellt etwa 60 Prozent des gesamten Kohlendioxidbedarfs in Großbritannien
her. Nur noch zwei Tage würden die Vorräte reichen, warnten Vertreter der britischen Lebensmittelindustrie zu Beginn dieser Woche. Die Folge: Die Auswahl von Waren in den Supermärkten würde beschränkter, manche Regale blieben gar leer.
Die Gaskrise beschäftigt ganz Europa, aber Großbritannien trifft sie besonders hart. Vielen britischen Energieversorgern droht die Insolvenz. Seit Anfang August gingen bereits sieben kleine Energieunternehmen pleite. Über die nächsten Monate könnten Dutzende weitere folgen.
Kommentatoren nennen es den perfekten Sturm, der sich über Großbritanniens Energiesektor zusammengebraut hat. Die Gasförderung in der Nordsee hat seit den 1980er-Jahren, als man noch NettoExporteur war, stark nachgelassen. Heute muss das Königreich rund die Hälfte seines Gasbedarfs importieren. Mit dem Abebben der Pandemie hat aber die weltweite Nachfrage
nach Erd- und Flüssiggas stark zugenommen – und das Königreich hat die niedrigsten Lagerkapazitäten in Europa. Sein Energiemix ist auf Gas, Atom- und erneuerbare Energien ausgerichtet. Doch der Wind blies in den vergangenen Wochen
unüblich schwach und drei Nuklearreaktoren mussten wegen Reparaturen abgeschaltet werden, und zu allem Überfluss hat ein Brand bei einer Versorgungsstation in Kent das Kabel beschädigt, das die Stromversorgung aus Frankreich sicherstellte. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass der Einkaufspreis für Gas seit Beginn des Jahres um mehr als 200 Prozent gestiegen und seit August um 70 Prozent explodiert ist.
Für die Energieunternehmen ist das ein echtes Problem, denn sie können die höheren Kosten nicht einfach an die Verbraucher weitergeben. Die Regierung hatte im Jänner 2019 eine Preisobergrenze für die Energieversorgung erlassen. Bei den momentanen Großhandelspreisen ist das für Energieunternehmen
ein glattes Verlustgeschäft.
Kleinere Unternehmen, die ihren Kunden niedrige Preise garantiert haben und kaum Rücklagen haben, stecken in Schwierigkeiten. Etwa der Energieversorger Green, der 250.000 Kunden hat. „Man muss gar nicht auf die nächsten sechs Monate schauen“, sagte Geschäftsführer Peter McGirr. „Schon in den nächsten drei Monaten wäre für uns Feierabend. Wir werden nicht ohne Unterstützung überleben.“
Doch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng will nicht intervenieren – zumindest nicht zugunsten kleiner Unternehmen. Bei den größeren könnte das anders aussehen. Sie verlangen von der Regierung ebenfalls Unterstützung und werden, so die Spekulationen, wohl staatliche Zwischenkredite erwarten können.
„Ohne Unterstützung wäre in drei Monaten für uns Feierabend.“Peter McGirr, Geschäftsführer des Energieversorgers Green