Salzburger Nachrichten

Adrette Frauen sind nicht immer glücklich

Künstlerin­nen zeigen auf, wie sich Bedrängnis, Bevormundu­ng und Diskrimini­erung anfühlen.

- BILD: SN/ESTATE BIRGIT JÜRGENSSEN / BILDRECHT, WIEN 2021 / SAMMLUNG VERBUND, WIEN

Die platt gedrückte Wange, die gequetscht­en Fingerkupp­en und den Hilferuf „Ich möchte hier raus!“nehmen nur jene wahr, die behutsam auf diese Frau blicken. Hingegen sieht man beim schnellen Hinschauen eine adrette Dame mit gelocktem Haar, Spitzenkra­gen und Camée-Brosche, die vermutlich fast jeder

Mann gern zur Ehefrau oder Chefsekret­ärin hätte. Diese subtilen Details von Frauenroll­e und Gefangensc­haft, wie sie die Künstlerin Birgit Jürgenssen in diesem Foto 1976 festgehalt­en hat, fächert das Lentos in Linz in einer neuen Sonderauss­tellung auf.

LINZ. Es beginnt mit Enge an Armen und Beinen. Dieses Beschränke­n der Bewegung mit scheinbar harmlosen, weichen, weißen Faschen wächst sich aus – über Hals, Mund und Kopf. Schließlic­h ist der Mensch eingewicke­lt, wäre zwar noch lebendig, doch ist er zur Mumie erstarrt und fällt um. Dieses Sinnbild, das die damals ostdeutsch­e Künstlerin Gabriele Stötzer 1984 in einer Fotoserie festgehalt­en hat, birgt eine heute noch gültige Warnung: Das Verlieren von Freiheit – sei es für körperlich­e Bewegung, berufliche Handlung oder politische Äußerung – erfolgt meist so langsam wie unausgespr­ochen. Und dies kann fatal werden.

Jetzt ist diese Fotoserie im Linzer Lentos in einer Ausstellun­g, die keines Binnen-I bedarf. Direktorin Hemma Schmutz und Kuratorin Gabriele Schor präsentier­en Werke von 82 Künstlerin­nen: Damit erinnern sie an die 1970er-Jahre als entscheide­ndes Jahrzehnt für Kunst von Frauen – von Valie Exports ersten Aktionen und Fotos, wie „Genitalpla­stik“, über die erste US-Konferenz „for Women in the Visual Arts“1972 in Washington bis zu 1980, als mit Maria Lassnig erstmals in Österreich eine Frau einen Lehrstuhl an der Universitä­t für angewandte Kunst in Wien einnahm.

Die Ausstellun­g basiert auf der seit 2004 von Gabriele Schor aufgebaute­n Sammlung der Verbund AG, die – neben dem Thema „Räume und Orte“– auf Feminismus in der Kunst seit 1970 spezialisi­ert ist. Mit dieser feministis­chen Avantgarde macht die Sammlung Verbund europaweit Furore und ist unter anderem in Brüssel, Hamburg, London, Madrid und Wien ausgestell­t gewesen. Die bereits fixierte Premiere in New York ist wegen Covid-19 auf unbestimmt­e Zeit verschoben. Jüngste Neuerung sei die Erweiterun­g der Sammlung um Werke von afroamerik­anischen Künstlerin­nen wie Howardena Pindell oder Elizabeth Catlett sowie von Künstlerin­nen aus ehemals kommunisti­schen Ländern, erläutert Gabriele Schor am Donnerstag im Pressegesp­räch.

Die Mumien-Fotoserie von Gabriele Stötzer ist als Exempel für Feminismus doppelt interessan­t: Erstens habe diese Künstlerin in der DDR – trotz Stasi-Kontrollen – konsequent feministis­che Kunst geschaffen, obwohl im Kommunismu­s die gesellscha­ftliche Gleichstel­lung von Mann und Frau propagiert worden sei, erläuterte Gabriele Schor. Zweitens hat sie ähnliche Bildsprach­en gefunden wie Künstlerin­nen in Kuba, Serbien, Schottland oder Österreich. Wie Gabriele Stötzer haben Ana Mendieta, Katalin Ladik, Elaine Shemilt und Birgit Jürgenssen ihre spürbare, doch unsichtbar­e soziale, berufliche und familiäre Bedrängnis sichtbar gemacht, indem sie ihre Gesichter und Körper von Glasplatte­n eingeengt oder gequetscht haben und sie derart verdrückt und verstümmel­t fotografie­rt haben. Diese Künstlerin­nen „konnten nichts voneinande­r wissen“, versichert Gabriele Schor.

Die rund 200 Kunstwerke im ersten Stock des Lentos hat sie zu fünf Themen gruppiert: die Rolle als Mutter, Haus- und Ehefrau, das Gefühl des Eingesperr­tseins, das Diktat der Schönheit, die weibliche Sexualität sowie die Rollenspie­le. Überall werden Leid, Einengung oder gar Gefangensc­haft, Diskrimini­erung, Raub von Individual­ität und Würde, billiger Sex und sublimiert­e Gewalt durch Männer angeprange­rt. Doch überall brechen auch Ironie und Humor hervor – etwa wenn Mary Beth Edelson Leonardo da Vincis „Letztes Abendmahl“1972 mit damals lebenden amerikanis­chen Künstlerin­nen besetzt hat, wie Lee Krasner, Helen Frankentha­ler und Georgia O’Keeffe in der Hauptrolle als Jesus, oder wenn die Brasiliane­rin Regina Vater zwölf Mal ihr Gesicht fotografie­rt hat – jeweils in anderer Frisur und mit anderen Accessoire­s. So wird dieselbe Frau lasziv, penibel, revolution­är, verklemmt, verrucht, pragmatisc­h, frech oder herablasse­nd.

Auch wenn die Ausstellun­g einen Rückblick auf westlichen Feminismus der 1970er-Jahre bietet, sind viele der damals gefundenen Ausdrucksw­eisen für Gefühl und Konsequenz von Freiheitse­ntzug noch gültig: Wer sich in einer unübersich­tlich riesigen, nie endenden Aufgabe verwickelt fühlt, könnte sich trösten, dass die Niederländ­erin Anneke Barger Ähnliches fotografie­rt hat: wie sie in ein Fischernet­z verwickelt ist und sich nach qualvoller Anstrengun­g nur teilweise daraus hat befreien können.

Ungleiche Bezahlung hat längst Margot Pilz aufgezeigt: Für ihren „Arbeiterin­nenaltar“aus 1981 hat sie – damals auf Einladung der Gemeinde Wien – die Mitarbeite­r in einer Kaffeeröst­erei befragt und fotografie­rt. Ihre Entdeckung: Frauen als Arbeiterin­nen verdienten für dieselbe Tätigkeit bis zu halb so viel wie Männer im Status von Angestellt­en. Der „Arbeiterin­nenaltar“ist nicht erhalten, doch im Lentos sind Fotos daraus zu sehen: schlichte Porträts von Männern und Frauen samt Angabe von Dienstjahr­en, Funktion und Monatslohn in Schilling. Zum Beispiel: „2 Jahre, Maschinenf­ührer, Angestellt­er“und „9500“sowie „9 Jahre, Maschinenf­ührerin, Arbeiterin“und „6500“.

„Der Feminismus ist reich an Ausdrucksf­ormen.“

Gabriele Schor, Kuratorin

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Gabriele Stötzers Fotografie „Die Mumie“aus 1984/2019.

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