Kaum zu fassen ...
... die Kanzlerin tritt ab. Ihre Person ist selbst nach 16 Jahren im Amt und in der Öffentlichkeit nur schwer zu greifen.
Stilfragen perlten an Angela Merkels gelben, orangen, violetten und grünen Blazern ab wie an einem Regenmantel. Über das Äußere der meistfotografierten Frau Europas wurde selten gesprochen. Auch Persönliches schirmte sie vor der Öffentlichkeit ab. Wer ist die Frau, die Europa über so lange Zeit geprägt hat? Ursula Weidenfeld hat ein Buch und Antworten vorgelegt.
SN: In Ihrem Buch findet sich der Satz: „Wäre die öffentlich sichtbare Angela Merkel eine Stadt, sie wäre Haßloch.“Das ist eine 20.000-Seelen-Gemeinde in Rheinland-Pfalz. Warum denn das?
Ursula Weidenfeld: Haßloch ist die Stadt des deutschen Durchschnitts. In Haßloch leben genauso viele Alte, Junge, Akademiker, Arme, Reiche wie im Durchschnitt Deutschlands. Wenn Konsumentenforscher wissen möchten, wie der Deutsche seinen Schokoriegel haben möchte oder auf welche Versicherungspolizzen er oder sie reagiert, dann geht man nach Haßloch und testet es da. Und Angela Merkel hat sich als öffentlich sichtbare Person genau da positioniert. Sie ist durchschnittlich groß, hat alle Probleme, die Frauen in ihrem Alter eben haben, mit dem Gewicht, mit der Frisur, mit allem Möglichen. Sie hat das mit den Jahren als Stilmittel entwickelt. Es weckte Vertrauen, jeder konnte sich finden. Sie hat damit auch verborgen, dass sie eigentlich alles andere als Durchschnitt ist.
SN: Sondern?
Angela Merkel ist überdurchschnittlich intelligent. Sie ist in der Lage, ganz komplexe Situationen zu analysieren und Punkte zu finden, wo man wieder ins Gespräch kommen kann, wo man vermitteln und Kompromisse herstellen kann. Sie bleibt in kritischen Situationen extrem ruhig. Sie ist eine Politikerin, die nicht in Aktionismus verfällt, sondern im Gegenteil so lange wartet und manchmal eben noch länger wartet, als es gut wäre, bis sie etwas entscheidet. Sie hat nie aufgehört zu lernen und sie hat ein enormes Gedächtnis. Das sind alles besondere Eigenschaften von Angela Merkel.
SN: Persönliches hat Merkel stets gut verborgen.
Wer ist die Frau?
Ich glaube, dass das eines der großen Geheimnisse von Angela Merkel bleiben wird. Sie hat Persönliches immer nur portionsweise preisgegeben und in ihrer Kanzlerinnenschaft noch weniger als vorher. In ihren ersten Jahren war sie vergleichsweise offen, als sie Ministerin im Kabinett Helmut Kohl war. Und danach hat sie dafür gesorgt, dass es ein bestimmtes öffentliches Bild von ihr gibt – und das hat sie sehr sorgfältig gemacht. Das fängt an mit Kleidung und Frisur. Sie hat sich uniformiert. Hat sich auch in den Geschichten über ihr Leben uniformiert. Hat sich hinter ihrem Amt verborgen und sich nicht mehr persönlich erkennbar gemacht.
SN: Warum? Glauben Sie, das geschah zu ihrem Schutz? Sicherlich hat das viel mit ihrem Misstrauen und ihrer Verschwiegenheit zu tun. Sie hat auch in den ersten Jahren erfahren, dass vieles, was man im Osten selbstverständlich getan hat, im Westen missverstanden wird und man da auch politisch instrumentalisiert wird. Daraus hat sie gelernt. Aber ich glaube, dass es weniger eine Schutzmaßnahme war als eben die Strategie, für Wähler und Verhandlungspartner eine Projektionsfläche zu entwickeln. Jeder konnte in Angela Merkel das sehen, was er in ihr sehen wollte. Es gehörte zu ihrer Strategie, sich eher als Moderatorin von politischen Prozessen zu verstehen denn als Antreiberin, wo man sich erkennbar macht – sowohl politisch als auch persönlich.
SN: Viele sind gekommen und gegangen, Angela Merkel blieb. Wie hat sie es geschafft, so viele andere Staatschefs zu überdauern?
Die Deutschen sind eben konservativ in ihrem Wahlverhalten – das muss man einfach sagen. Es gibt überdurchschnittlich viele lange Kanzlerschaften in Deutschland. Konrad Adenauer, Helmut Kohl, Angela Merkel – alle über zwölf Jahre. Ich glaube, das hat einerseits viel damit zu tun, dass die deutsche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht besonders polarisierungsfreudig war und auch ehrlich gesagt keine Lust mehr hatte auf charismatische Anführer, weil sie damit eben auch ihre Erfahrungen gemacht hat. Nicht nur Deutschland, die Welt hat damit furchtbare Erfahrungen gemacht.
SN: Sie haben angesprochen, dass Merkels Stil ein abwartender war. Sie hat meist das Gefühl vermittelt: So schnell ändert sich nichts. Warum wird das so positiv gewertet?
Die deutsche Gesellschaft ist tendenziell eine, die keine Veränderung will. Die sich einrichtet in bestehendem Wohlstand. Und solange der nicht in Gefahr ist, sieht sie auch keinen Grund, etwas am Kurs zu verändern. Das hat Merkel versprochen. Der Preis dafür ist, dass in den 16 Jahren viel liegen geblieben ist. Viel an Reformarbeit, die nötig gewesen wäre, aber nicht gemacht worden ist, weil Angela Merkel im Grunde immer nur die Probleme gelöst hat, die sie unbedingt lösen musste. Die anderen hat sie liegen lassen.
SN: Die Kanzlerin hat einmal gesagt: „Politik ist, was möglich ist.“Sie hätte auch sagen können: „Politik ist, was meine Vision ist.“
Interessant, dass Sie diesen Satz ansprechen. Sie hat in ihrer Rede vor Harvard-Studenten im Jahr 2019 gesagt, sie frage sich täglich: „Tu ich das, weil es nötig ist, oder tu ich es, weil es richtig ist.“Ich würde eben auch sagen, Angela Merkel hat sich immer für das Mögliche entschieden. Auch dann, wenn es mal nicht richtig war. Sie hat diesen Satz mehrfach in ihrer politischen Zeit abgewandelt und benutzt. Das ist etwas, was sie beschäftigt. Wobei die politischen Antworten immer mehr beim Möglichen lagen. Vielleicht war das Migrationsjahr 2015 das einzige Mal, wo sie sichtbar versucht hat, das von ihr erkannte Richtige zu tun.
SN: Als Beobachterin hatte man immer den Eindruck, die Frau ist absolut uneitel. Es ging immer um die Sache.
Auch das ist stilisiert. Sie hat sich in ihrer Uneitelkeit so stilisiert, dass sie schon fast wieder eitel ist darin. Insofern würde ich sagen, das ist ein ambivalentes Bild. Aber, klar: Wer lösungsorientiert ist, wer darauf verzichtet, mit großen Entwürfen und bewegenden Ansprachen vor die Nation zu treten, und sich nicht selbst dauernd ins Scheinwerferlicht rückt, hat auf der anderen Seite die Chance, Kompromisse zu suchen und zu finden.
SN: Wenn man 16 Jahre Kanzlerin ist, geht das nicht ohne ausgeprägten Machtinstinkt.
Haben Sie Angela Merkel aber als dominant erlebt?
Angela Merkel ist eine Machtpolitikerin. Man wird weder in Deutschland noch anderswo Premierminister oder Kanzler, wenn man kein Machtpolitiker ist. Sie hat mit sehr viel Ehrgeiz und Geschick dafür gesorgt, dass sie Kanzlerkandidatin werden konnte, dass sie dann auch Kanzlerin wurde und geblieben ist. Hinzu kommt: Deutschlands Gewicht, das ökonomische Gewicht in der EU hat zugenommen, das politische Gewicht ebenso. Das hat viel mit dem Brexit zu tun, aber eben auch mit der Zeit nach der Finanzkrise, in der die deutsche Wirtschaft deutlich gewachsen ist, während die Südländer ganz große Probleme hatten. Der Versuch Angela Merkels, die wirtschaftliche und politische Stärke innerhalb Europas so zu buchstabieren, dass Deutschland zwar selbstbewusst ist, aber nicht hegemonial auftritt – immer kompromissbereit ist, immer auch bereit ist, den finanziellen Preis zu bezahlen für seine Rolle –, das ist, glaube ich, eine der Leistungen der Kanzlerin, die sehr unterschätzt wird.
SN: Können Sie sich Frau Merkel vorstellen, wie sie die Füße hochlegt?
Sie sagt ja, sie wolle mal ausschlafen. Das glaube ich sofort. Ansonsten sagt sie, sie habe keine Pläne. Ich glaube, Angela Merkel ist eine jener Politikerinnen, die gar nicht so furchtbar darunter leiden, wenn sie keine Macht mehr haben.
Ursula Weidenfelds