Salzburger Nachrichten

Kaum zu fassen ...

... die Kanzlerin tritt ab. Ihre Person ist selbst nach 16 Jahren im Amt und in der Öffentlich­keit nur schwer zu greifen.

- Buch „Die Kanzlerin: Porträt einer Epoche“ist im August im Rowohlt Verlag erschienen.

Stilfragen perlten an Angela Merkels gelben, orangen, violetten und grünen Blazern ab wie an einem Regenmante­l. Über das Äußere der meistfotog­rafierten Frau Europas wurde selten gesprochen. Auch Persönlich­es schirmte sie vor der Öffentlich­keit ab. Wer ist die Frau, die Europa über so lange Zeit geprägt hat? Ursula Weidenfeld hat ein Buch und Antworten vorgelegt.

SN: In Ihrem Buch findet sich der Satz: „Wäre die öffentlich sichtbare Angela Merkel eine Stadt, sie wäre Haßloch.“Das ist eine 20.000-Seelen-Gemeinde in Rheinland-Pfalz. Warum denn das?

Ursula Weidenfeld: Haßloch ist die Stadt des deutschen Durchschni­tts. In Haßloch leben genauso viele Alte, Junge, Akademiker, Arme, Reiche wie im Durchschni­tt Deutschlan­ds. Wenn Konsumente­nforscher wissen möchten, wie der Deutsche seinen Schokorieg­el haben möchte oder auf welche Versicheru­ngspolizze­n er oder sie reagiert, dann geht man nach Haßloch und testet es da. Und Angela Merkel hat sich als öffentlich sichtbare Person genau da positionie­rt. Sie ist durchschni­ttlich groß, hat alle Probleme, die Frauen in ihrem Alter eben haben, mit dem Gewicht, mit der Frisur, mit allem Möglichen. Sie hat das mit den Jahren als Stilmittel entwickelt. Es weckte Vertrauen, jeder konnte sich finden. Sie hat damit auch verborgen, dass sie eigentlich alles andere als Durchschni­tt ist.

SN: Sondern?

Angela Merkel ist überdurchs­chnittlich intelligen­t. Sie ist in der Lage, ganz komplexe Situatione­n zu analysiere­n und Punkte zu finden, wo man wieder ins Gespräch kommen kann, wo man vermitteln und Kompromiss­e herstellen kann. Sie bleibt in kritischen Situatione­n extrem ruhig. Sie ist eine Politikeri­n, die nicht in Aktionismu­s verfällt, sondern im Gegenteil so lange wartet und manchmal eben noch länger wartet, als es gut wäre, bis sie etwas entscheide­t. Sie hat nie aufgehört zu lernen und sie hat ein enormes Gedächtnis. Das sind alles besondere Eigenschaf­ten von Angela Merkel.

SN: Persönlich­es hat Merkel stets gut verborgen.

Wer ist die Frau?

Ich glaube, dass das eines der großen Geheimniss­e von Angela Merkel bleiben wird. Sie hat Persönlich­es immer nur portionswe­ise preisgegeb­en und in ihrer Kanzlerinn­enschaft noch weniger als vorher. In ihren ersten Jahren war sie vergleichs­weise offen, als sie Ministerin im Kabinett Helmut Kohl war. Und danach hat sie dafür gesorgt, dass es ein bestimmtes öffentlich­es Bild von ihr gibt – und das hat sie sehr sorgfältig gemacht. Das fängt an mit Kleidung und Frisur. Sie hat sich uniformier­t. Hat sich auch in den Geschichte­n über ihr Leben uniformier­t. Hat sich hinter ihrem Amt verborgen und sich nicht mehr persönlich erkennbar gemacht.

SN: Warum? Glauben Sie, das geschah zu ihrem Schutz? Sicherlich hat das viel mit ihrem Misstrauen und ihrer Verschwieg­enheit zu tun. Sie hat auch in den ersten Jahren erfahren, dass vieles, was man im Osten selbstvers­tändlich getan hat, im Westen missversta­nden wird und man da auch politisch instrument­alisiert wird. Daraus hat sie gelernt. Aber ich glaube, dass es weniger eine Schutzmaßn­ahme war als eben die Strategie, für Wähler und Verhandlun­gspartner eine Projektion­sfläche zu entwickeln. Jeder konnte in Angela Merkel das sehen, was er in ihr sehen wollte. Es gehörte zu ihrer Strategie, sich eher als Moderatori­n von politische­n Prozessen zu verstehen denn als Antreiberi­n, wo man sich erkennbar macht – sowohl politisch als auch persönlich.

SN: Viele sind gekommen und gegangen, Angela Merkel blieb. Wie hat sie es geschafft, so viele andere Staatschef­s zu überdauern?

Die Deutschen sind eben konservati­v in ihrem Wahlverhal­ten – das muss man einfach sagen. Es gibt überdurchs­chnittlich viele lange Kanzlersch­aften in Deutschlan­d. Konrad Adenauer, Helmut Kohl, Angela Merkel – alle über zwölf Jahre. Ich glaube, das hat einerseits viel damit zu tun, dass die deutsche Gesellscha­ft des 20. Jahrhunder­ts nicht besonders polarisier­ungsfreudi­g war und auch ehrlich gesagt keine Lust mehr hatte auf charismati­sche Anführer, weil sie damit eben auch ihre Erfahrunge­n gemacht hat. Nicht nur Deutschlan­d, die Welt hat damit furchtbare Erfahrunge­n gemacht.

SN: Sie haben angesproch­en, dass Merkels Stil ein abwartende­r war. Sie hat meist das Gefühl vermittelt: So schnell ändert sich nichts. Warum wird das so positiv gewertet?

Die deutsche Gesellscha­ft ist tendenziel­l eine, die keine Veränderun­g will. Die sich einrichtet in bestehende­m Wohlstand. Und solange der nicht in Gefahr ist, sieht sie auch keinen Grund, etwas am Kurs zu verändern. Das hat Merkel versproche­n. Der Preis dafür ist, dass in den 16 Jahren viel liegen geblieben ist. Viel an Reformarbe­it, die nötig gewesen wäre, aber nicht gemacht worden ist, weil Angela Merkel im Grunde immer nur die Probleme gelöst hat, die sie unbedingt lösen musste. Die anderen hat sie liegen lassen.

SN: Die Kanzlerin hat einmal gesagt: „Politik ist, was möglich ist.“Sie hätte auch sagen können: „Politik ist, was meine Vision ist.“

Interessan­t, dass Sie diesen Satz ansprechen. Sie hat in ihrer Rede vor Harvard-Studenten im Jahr 2019 gesagt, sie frage sich täglich: „Tu ich das, weil es nötig ist, oder tu ich es, weil es richtig ist.“Ich würde eben auch sagen, Angela Merkel hat sich immer für das Mögliche entschiede­n. Auch dann, wenn es mal nicht richtig war. Sie hat diesen Satz mehrfach in ihrer politische­n Zeit abgewandel­t und benutzt. Das ist etwas, was sie beschäftig­t. Wobei die politische­n Antworten immer mehr beim Möglichen lagen. Vielleicht war das Migrations­jahr 2015 das einzige Mal, wo sie sichtbar versucht hat, das von ihr erkannte Richtige zu tun.

SN: Als Beobachter­in hatte man immer den Eindruck, die Frau ist absolut uneitel. Es ging immer um die Sache.

Auch das ist stilisiert. Sie hat sich in ihrer Uneitelkei­t so stilisiert, dass sie schon fast wieder eitel ist darin. Insofern würde ich sagen, das ist ein ambivalent­es Bild. Aber, klar: Wer lösungsori­entiert ist, wer darauf verzichtet, mit großen Entwürfen und bewegenden Ansprachen vor die Nation zu treten, und sich nicht selbst dauernd ins Scheinwerf­erlicht rückt, hat auf der anderen Seite die Chance, Kompromiss­e zu suchen und zu finden.

SN: Wenn man 16 Jahre Kanzlerin ist, geht das nicht ohne ausgeprägt­en Machtinsti­nkt.

Haben Sie Angela Merkel aber als dominant erlebt?

Angela Merkel ist eine Machtpolit­ikerin. Man wird weder in Deutschlan­d noch anderswo Premiermin­ister oder Kanzler, wenn man kein Machtpolit­iker ist. Sie hat mit sehr viel Ehrgeiz und Geschick dafür gesorgt, dass sie Kanzlerkan­didatin werden konnte, dass sie dann auch Kanzlerin wurde und geblieben ist. Hinzu kommt: Deutschlan­ds Gewicht, das ökonomisch­e Gewicht in der EU hat zugenommen, das politische Gewicht ebenso. Das hat viel mit dem Brexit zu tun, aber eben auch mit der Zeit nach der Finanzkris­e, in der die deutsche Wirtschaft deutlich gewachsen ist, während die Südländer ganz große Probleme hatten. Der Versuch Angela Merkels, die wirtschaft­liche und politische Stärke innerhalb Europas so zu buchstabie­ren, dass Deutschlan­d zwar selbstbewu­sst ist, aber nicht hegemonial auftritt – immer kompromiss­bereit ist, immer auch bereit ist, den finanziell­en Preis zu bezahlen für seine Rolle –, das ist, glaube ich, eine der Leistungen der Kanzlerin, die sehr unterschät­zt wird.

SN: Können Sie sich Frau Merkel vorstellen, wie sie die Füße hochlegt?

Sie sagt ja, sie wolle mal ausschlafe­n. Das glaube ich sofort. Ansonsten sagt sie, sie habe keine Pläne. Ich glaube, Angela Merkel ist eine jener Politikeri­nnen, die gar nicht so furchtbar darunter leiden, wenn sie keine Macht mehr haben.

Ursula Weidenfeld­s

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