Die Wahl der Meinungsforscher und Medienmacher
Erst CDU, dann Grüne, zuletzt SPD voran: Wenn das anders ausgeht, sind Auftragnehmer und -geber von Umfragen die größten Wahlverlierer.
Gäbe es pro Tag nur eine Umfrage zur deutschen Bundestagswahl, wäre der September schon vorbei. Allein im laufenden Monat wurden 30 repräsentative Antwortergebnisse auf die entsprechende Sonntagsfrage veröffentlicht. Von einem Dutzend renommierter Marktforschungsinstitute. Für die angesehensten Medien des Landes. Sie alle sehen die SPD voran. Jede dieser Meinungserhebungen ortet einen noch größeren Vorsprung für Olaf Scholz, falls der Kanzler direkt gewählt werden könnte.
Das aber ist ebenso wenig der Fall wie per Umfrage ermittelte Parlamentszusammensetzungen. Deshalb bleibt es spannend, wie einer der seltsamsten Wahlkämpfe seit Jahrzehnten endet. Er war geprägt von Führungswechseln. Wo Schwarz lange als uneinholbar galt, war im Frühjahr Grün kurz gleichauf und ging im Herbst Rot in Führung. Gezogen jeweils von den Kandidaten – hinauf wie hinunter. Das Wissen um diese Stimmungslagen stammt aber nahezu ausschließlich von Umfragen bzw. der Berichterstattung darüber. Sie beeinflusst jene 30 Prozent, die auch in der Woche vor der Wahl noch unentschlossen waren. Das sind mehr, als für jede Partei vorhergesagt werden.
Auch deshalb – zur Selbstabsicherung – war im Endspurt immer öfter von „Kopf an Kopf“die Rede. Und weil ein offenes Rennen die meisten Nutznießer hat: die Duellanten, um ihre Anhänger zu mobilisieren; die Institute, um Umfrageaufträge zu erhalten; die Medien, um ihre Nutzer zu fesseln.
Falls am Sonntag doch nicht die SPD voranliegt, können weder Meinungsforscher noch Medienmacher sich einfach aus der Affäre ziehen, indem sie auf das angekündigte „Kopf an Kopf“, die Schwankungsbreiten und die Momentaufnahmen verweisen. Umfragen haben den Wahlkampf mitbestimmt. Viele Unentschlossene wollen bei den Siegern sein. Bei anderen gibt es Mitleidseffekt. Dazu kommen
Kontrollfreaks und Kleinparteien-Anhänger. Programme? Themen? Welche Programme und Themen? Die Öffentlichkeit wurde dominiert von Kanzlertriell und Prozentwettlauf.
Wenn die SPD nicht siegt, wäre dies das größte Debakel der Meinungsforscher seit der Kür von Donald Trump. Einige Staaten haben die Publikation von Umfragen in den letzten Wochen vor der Wahl untersagt. Verbote sind selten der Weisheit letzter Schluss. Aber im Sinne der Demokratiequalität ist die Infragestellung des Umfrage-Stakkatos wichtig. Auftraggeber und -nehmer müssen einen verantwortungsvolleren Umgang mit Meinungsforschung finden. Wo die Neugier auf das Denken der anderen dominiert, leidet die Bildung einer wirklich eigenen Meinung. Nicht nur in Deutschland.
Peter Plaikner