„Das Abschotten in Meinungsblasen macht uns dümmer“
Ich bin der Gute, und wer anderer Meinung als ich ist, der ist der Böse. – Diese Moralisierung von Sachfragen ist nach Ansicht des Historikers und Theologen Benjamin Hasselhorn die Wurzel der Polarisierung der Gesellschaft. Er fordert dazu auf, eine neue Streitkultur zu entwickeln und Brücken zum Gegenüber zu bauen.
Der Historiker und Theologe Benjamin Hasselhorn unterrichtet Geschichte an der Universität Würzburg. Im Sammelband „Bürgergesellschaft heute“der Politischen Akademie der ÖVP setzt er sich unter dem Titel „Gesucht: Brückenbauer“mit der Polarisierung der Gesellschaft auseinander.
SN: Durch die Gesellschaft gehe ein Riss, hat der Bundespräsident am Nationalfeiertag gesagt. Woher kommt diese Polarisierung?
Hasselhorn: In den letzten zehn oder 15 Jahren fällt es uns zunehmend schwer, die Meinung der anderen Seite zu verstehen oder auch nur zu kennen. So laufen wir in unseren westlichen Gesellschaften zunehmend Gefahr, uns gegenseitig in Meinungsblasen abzuschotten.
SN: Und was genau ist daran problematisch?
Polarisierungen gab es schon immer, aber problematisch wird es dann, wenn kein Austausch zwischen den Lagern mehr stattfindet. Und wenn die Polarisierung zur Moralisierung wird. Wenn man sich nicht mehr als Teile einer gemeinsamen Gesellschaft begreift, sondern sich in vermeintlich gute und böse Menschen einteilt. Wir neigen ja dazu, aus Sachfragen moralische Fragen zu machen – sei es Corona, Klima oder Migration. Da geht es nur noch um Haltung und es heißt: Es gibt eine richtige und eine falsche Haltung. Und wer die falsche Haltung hat, der hat in der Diskussion nichts mehr verloren. – Das ist eines der Schlüsselprobleme.
SN: Hat das auch eine quasireligiöse Komponente?
Das könnte man tatsächlich vermuten. Die christliche Lehre geht ja davon aus, dass in der Welt Gutes gegen Böses steht. Das moderne Christentum hat das aber weiterentwickelt zu der Erkenntnis: Gutes und Böses gibt es in jedem von uns. Aber mir scheint, es geht uns langsam die Fähigkeit verloren, in uns auch das Böse und im anderen auch das Gute wahrzunehmen.
SN: Wodurch wird Polarisierung Ihrer Meinung nach ausgelöst?
Schuld ist im Grunde die menschliche Natur. Wir alle sind darauf angelegt, Gruppen zu bilden und uns mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Denken Sie nur an den Sport. Da bilden wir Teams, um uns mit anderen Teams zu messen. Das ist grundsätzlich nichts Schlimmes, denn durch produktive Konkurrenz findet ja Fortschritt statt. Problematisch
wird das erst, wenn der übersteigerte Konsum der sozialen Medien diese natürliche Tendenz, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben, zu sehr verstärkt. Dann nehmen wir Informationen nur noch selektiv wahr, damit sie unseren vorgefassten Meinungen entsprechen. Das verschärft den Hang, abgeschottete Meinungsblasen zu bilden. Während uns auf der anderen Seite Orte, wo Menschen unterschiedlicher Meinung zusammenkommen und einander verstehen lernen können, immer mehr verloren gehen.
SN: Etwa die Universitäten.
Tatsächlich macht sich in den USA, wo die Polarisierungstendenzen schon viel weiter fortgeschritten sind, eine ideologische Vereinseitigung der Universitäten bemerkbar. Da gibt es nicht mehr ein Spektrum verschiedener Meinungen, sondern es herrscht ein Konformitätsdruck bis hin zum Jobverlust.
SN: Wo sehen Sie mögliche Auswege aus der Polarisierung?
Positiv ist, dass das Problem erkannt wurde und es mittlerweile eine breite Palette an Aufrufen gibt, die Spaltung zu überwinden. Das finde ich gut. Problematisch wird es, wenn bei diesen Beschwörungen die Schuld an der Spaltung immer beim anderen gesehen wird. Dann verschärfen diese Aufrufe die Spaltung sogar noch. Wem es ernst damit ist, die Risse nicht zu vertiefen, sondern Brücken zu bauen, muss bei sich selbst beginnen.
SN: Was soll man konkret tun?
Man sollte bewusst damit beginnen, sich mit Menschen zu umgeben, die anderer Auffassung sind. Das hilft uns, eher zu Lösungen zu kommen. Denn wir alle neigen ja dazu, unsere eigene Meinung für die Wahrheit zu halten und die Schwächen in unserer Argumentation nicht zu sehen. Darauf kann uns nur ein Gesprächspartner aufmerksam machen.
SN: Aber viele Menschen können oder wollen ja gar nicht mehr miteinander diskutieren.
Deswegen muss man für eine faire und zivilisierte Streitkultur eintreten. Das heißt vor allem: Moralismus herausnehmen. Denn der macht uns dümmer, als wir eigentlich sind. Der US-Psychologe Jonathan Haidt sagt: Immer dann, wenn wir ein komplexes politisches Problem auf ein Gut-gegen-BöseNarrativ reduzieren, verringern wir unseren Intelligenzquotienten um zehn Punkte. Da ist was dran. Man muss versuchen, die Sichtweise des Gegenübers zu verstehen. Und dann geht es in einem weiteren
Schritt darum, die Gemeinsamkeiten zu finden und zu betonen.
SN: In dem Buch heißt es, der Verstand ist wie ein Muskel: Er wächst am Widerstand. Heißt das, dass wir gerade dümmer werden?
Das weiß ich nicht. Aber wir sind zunehmend entwöhnt, kontrovers zu diskutieren. Das merke ich auch bei meinen Studenten. Es würde sich lohnen, die Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken und andere Meinungen zu berücksichtigen, wieder mehr zu fördern.
SN: Wir haben jetzt darüber gesprochen, was der Einzelne tun könnte. Aber was könnte die Politik tun?
Ich scheue mich immer zu sagen, was „die Politik“tun sollte. Man kann beim Einzelnen viel besser ansetzen. Denn dumm sind die Menschen nur in der Masse, und ganz selten als Einzelne. Der Befund der Polarisierung ist ja zum Teil auch einer Wahrnehmungsverzerrung geschuldet: Unsere Gesellschaften sind nicht so verfeindet, wie es in der öffentlichen Debatte scheint. Das ist nur an den Meinungsrändern der Fall. Man sollte die gesellschaftlichen Stabilisatoren in der Mitte stärken und nicht so sehr auf die Spalter an den Rändern hören.