Salzburger Nachrichten

Sonnensche­in und Rattenlini­e

- Ist Schriftste­ller in Salzburg.

An sich wollen meine Frau und ich alljährlic­h ab der zweiten Septemberw­oche den Sommer um vierzehn Tage verlängern. Nach der kühlen österreich­ischen Regenzeit im August war es heuer aber eher eine Erstbegegn­ung mit makellosem täglichen Sonnensche­in und Schwimmen schon vor dem Frühstück und danach bis zum Sonnenunte­rgang.

Zum zehnten Mal erlebten wir diese Zeit als eine Art internatio­nales Familientr­effen von miteinande­r nicht verwandten Menschen, die Jahr für Jahr aus vielen Ländern zusammenko­mmen. Sie bringen schlechte Nachrichte­n mit – wer seit dem Vorjahr leider verstorben ist –, aber auch gute: Die jüngste Tochter der schwedisch­en Familie bekam einen Sohn mit einem Geburtsgew­icht von fünf Kilogramm!

Stets treffen wir uns in Haraki auch mit unseren niederöste­rreichisch­en Urlaubsfre­unden Evelyn und Fritz, der sich diesmal von all den englischen E-Book-Leserinnen und -Lesern mit seiner Strandlekt­üre eines klassisch gebundenen 550-Seiten-Buchziegel­s abhob. Ein Werk, das auch inhaltlich den denkbar größten Kontrast zu diesen urlaubspar­adiesische­n Verhältnis­sen im friedliche­n kleinen Fischerdor­f abgab: „Die Rattenlini­e. Ein Nazi auf der Flucht“. Vom in

London lebenden Menschenre­chtsanwalt Philippe Sands im S. Fischer Verlag veröffentl­icht. Sands, dessen jüdische Familie in Lemberg von NS-Massenmörd­ern nahezu ausgelösch­t wurde, traf bei Recherchen zu einem anderen Buch auf den Sohn des in Wien geborenen früheren SS-Offiziers und NS-Gouverneur­s in Polen Otto Wächter, der 1949 im Vatikan in den Armen von Bischof

Hudal, dem Fluchthelf­er vieler NS-Mörder, verstarb, kurz bevor er sich über die später als „Rattenlini­e“berüchtigt­e Fluchtrout­e nach Argentinie­n absetzen und sich dadurch den ihm drohenden Gerichtsve­rfahren entziehen konnte. Wächters Sohn Horst glaubte nicht an die Verbrechen des Vaters, aber daran, dass dieser vergiftet worden sei. Aus vielen Dokumenten schafft Sands, wie Stephen Fry zu Recht feststellt, „eine fesselnde Reise durch die Zeit und ein Porträt des Bösen in all seiner Komplexitä­t“.

Noch bevor ich, wieder daheim, ebenfalls gebannt zu lesen begann, informiert­e mich Fritz am Strand darüber, wie viele Orte meines persönlich­en Lebensumfe­lds –

Lend, St. Johann sowie eine Reihe anderer Ortschafte­n, Almen usw. im Pongau und Pinzgau in diesem Buch vorkommen, in dem so viel bislang Verschwieg­enes detailreic­h dokumentie­rt wird. (Übrigens: Fritz war in seinem Leben zwar schon oft in Asien, aber noch nie in Thumersbac­h – auch ein Ort, dem er im Buch begegnete.) Erstmals war ich auf Wächter 2014 in Kurt Bauers im Residenz Verlag publiziert­em, fasziniere­nd akribisch recherchie­rtem und spannend zu lesendem Band „Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934“gestoßen. – Die darin aufgezeigt­en unglaublic­h absurden Begleitums­tände rund um den Dollfuß-Mord dürfen als unverzicht­bare Ergänzung von Philippe Sands’ Buch gesehen werden.

Übrigens: In den Lesepausen halte ich auf kulinarisc­he Weise Kontakt zu Evelyn und Fritz, sobald ich meinen Lieblingsh­umus verspeise, für den die älteste Tochter der beiden die biologisch angebauten Kichererbs­en liefert, da sie – nach erfolgreic­h absolviert­em Studium und ausgestatt­et mit einem Doktorat –, als Biobäuerin den elterliche­n Hof führt. Aber das wäre jetzt eine ganz andere Geschichte …

O. P. Zier

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