Kein Stimmenfang auf Kosten der Gesundheit
Die Covidpolitik lässt sich zu sehr von taktischen Überlegungen leiten. Gerade die haben in einer Krise nichts verloren.
Der Lockdown für Menschen, die noch nicht geimpft sind, ist umstritten, er kommt aber nicht so überraschend, wie manche jetzt tun. Die Regierung hat ihn bereits am 23. Oktober in ihrem Fünf-Stufen-Plan für den Fall angekündigt, dass sich die Lage in den Spitälern und Intensivstationen nicht entspannt, sondern weiter verschärft. Der Fall ist jetzt eingetreten.
Medizinerinnen und Mediziner fürchten, dass diese Notbremsung nicht mehr ausreicht, und raten zu schärferen Maßnahmen. Dazu konnten sich die Vertreter von Bund und Ländern nicht durchringen. Sie bleiben bei der bisherigen Linie, Maßnahmen erst dann zu ergreifen, wenn sie nicht mehr zu verhindern sind. Daher ist es möglich, dass die Treppe der Pandemiebekämpfung schon bald um eine sechste Stufe aufgestockt werden muss: Lockdown für alle.
Stärker denn je spürt man derzeit, dass unser gewähltes Führungspersonal auch von parteipolitischen Überlegungen geleitet wird. Entscheidungen werden getroffen oder eben nicht, weil sie sich so oder so auf die Wählergunst auswirken könnten.
Man wird das Gefühl nicht los, dass nicht ausschließlich die erfolgreiche Pandemiebekämpfung das Handeln bestimmt, sondern immer auch dessen mögliche Auswirkungen in den nächsten Umfragen und möglichen Neuwahlen. Das gilt für die bisher zaudernde
Regierung, für einzelne Landeshauptleute, aber auch für Teile der Opposition, allen voran die FPÖ. In einer Krise, die alle Bürgerinnen und Bürger betrifft, hat parteitaktisches Kalkül nichts verloren. Stimmenfang auf Kosten der Gesundheit ist eine Schande.
Der Wiener SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig ist in diesen Tagen eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen. Er pfeift sich nichts um mögliche Sympathieverluste, sondern setzt auf Empfehlung der Wissenschaft Maßnahmen um. Selbst wenn sie wehtun. Diese Haltung wird ihm auf Dauer politisch nützen, nicht schaden.
Der überwiegende Teil der Bevölkerung in Österreich trägt die Covidmaßnahmen von Beginn an mit. Egal ob Maske, Ausgangsbeschränkungen, Abstand, Hygiene oder eben die Impfung, diese Menschen machen aus medizinischer Sicht vieles richtig. Sie sind die übergroße Mehrheit. Sie sind für die jetzige Situation ganz sicher nicht verantwortlich. Und sie sind deshalb zu Recht verärgert über die bisherige von Vorsicht und Rücksicht geprägte Politik. Doch wie so oft schweigt die Mehrheit. Stattdessen erwecken die Kritiker mit großer Lautstärke den Eindruck, sie seien in der Überzahl.