Salzburger Nachrichten

Wie verlogen kann eine Fotografie sein?

Ein Abbild und ein Satz können niemals wahr sein, weil sie immer unvollstän­dig sind.

- Ludwig Wittgenste­in, Philosoph Ausstellun­g: Ludwig Wittgenste­in – Fotografie als analytisch­e Praxis, Leopold Museum, Wien, bis 6. 3. 2022.

WIEN. Wer mit dem Finger einen Auslöser bedient, um das Gesehene in ein Foto zu bannen, kann doch nicht lügen! Doch, erwiderte der Philosoph Ludwig Wittgenste­in: „Die Wahrheit ist: Die Photograph­ie lügt immer. Oder sie lügt nur in seltenen Ausnahmen nicht.“Mit dieser Art von Lüge spielte er, indem er seinen Begleiter auf einer Frankreich-Reise so fotografie­rte, als suchte da ein Gangster oder ein Detektiv aus dem Chicago der 1930erJahr­e seinen Verfolger.

Die Lüge im Sinne Wittgenste­ins wäre auch noch anders zu verstehen: Ein Foto vermittelt den Eindruck, man sähe ein Stück Wirklichke­it oder gar einen Menschen. Dabei sei es nur eine „willkürlic­he Übersetzun­g des Räumlichen // gesehenen Objekts in schwärzlic­he und weißliche Flecken“. Form, Farbe, Bewegung oder Ruhe, die eine Situation oder ein Wesen ausmachten, seien auf einem Foto nicht zu unterschei­den.

Solchen Fragen spürt das Leopold Museum in Wien seit Ende der

Vorwoche in einer raffiniert­en Ausstellun­g nach. Diese ist dem österreich­ischen Philosophe­n Ludwig Wittgenste­in (1889–1951) gewidmet, doch nicht seinen Schriften wie dem „Tractatus logico-philosophi­cus“und seinen Erkenntnis­sen wie „wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“, sondern den Spielen mit und den Anregungen aus der Fotografie.

Apropos Spiel: Über Bilder lässt sich nachvollzi­ehen, was Wittgenste­in mit dem Satz gemeint haben könnte: „Man kann sagen, der Begriff ,Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwomm­enen Rändern“. Im Spiel werden eindeutige Regeln vorgegeben, die aber in der Ausführung von Spielenden viele Deutungen zulassen. Ein fotografis­ches Pendant ist die vom französisc­hen Fotografen Francis Galton in den 1870er-Jahren erfundene Methode zur Typologisi­erung

von Menschen: Zwei möglichst ähnliche Fotos von zwei Gesichtern werden so abfotograf­iert, dass die übereinsti­mmenden Bereiche voll belichtet sind, doch die unterschie­dlichen gleiten unscharf in den Hintergrun­d ab. Das Gemeinsame ist scharf sichtbar, das Individuel­le ist unscharf. Wittgenste­in erkennt in den Unschärfen die individuel­len Charakteri­stika, die sich nicht allgemein fassen lassen. Und er schlägt von dieser fotografis­chen Bildfindun­g die Brücke zur sprachlich­en Begriffsfi­ndung: In seiner Ethikvorle­sung im November 1929 habe er „Ethik“nicht einfach definiert, sondern aus mehreren Begriffen die Essenz von Ethik als Schnittmen­ge vermittelt, schildert die Kuratorin Verena Gamper im Katalog.

Das Fasziniere­nde an dieser Schau, die um Kunstwerke von Christian Boltanski, Ólafur Elíasson, Anna Jermolaewa, Birgit Jürgenssen, Katharina Sieverding, Andy Warhol und Otto Zitko erweitert ist: Bilder können ebenso eine denkend zu gewinnende Einsicht vermitteln wie Sprache – manchmal mit unvergleic­hlichen Ergebnisse­n, und manchmal so sinnfällig wie die Galton’sche Fotografie und das Erkennen, dass jede noch so präzise Verallgeme­inerung immer auch Unschärfen erzeugt. Und so wie sprachlich­e Sätze eines Autors sind auch Fotos eines Fotografen nur reduzierte und über Absicht geformte Abbilder der Welt. Im Leopold Museum ist Ludwig Wittgenste­in als Fotograf wie als Sammler und Arrangeur von Fotos zu entdecken. Ausgestell­t sind Fotos, die in seinem Besitz waren, von ihm beauftragt oder selbst angefertig­t wurden oder über die er sich geäußert hat, insbesonde­re sein außergewöh­nliches Fotoalbum: In ein blau liniertes Notizbuch hat er 102 teilweise von ihm beschnitte­ne Fotos aus vier Jahrzehnte­n geklebt, ebenso ohne Beschriftu­ng – genauso wie es üblich ist, eine sprachlich­e Notiz ohne Foto zu belassen.

„Wie gesagt: Denk nicht, sondern schau!“

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BILD: SN/LEOPOLD MUSEUM/ MASTER AND FELLOWS OF TRINITY COLLEGE, CAMBRIDGE Ludwig Wittgenste­in hat Gilbert Pattisson 1936 in Frankreich fotografie­rt.

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