Wie verlogen kann eine Fotografie sein?
Ein Abbild und ein Satz können niemals wahr sein, weil sie immer unvollständig sind.
WIEN. Wer mit dem Finger einen Auslöser bedient, um das Gesehene in ein Foto zu bannen, kann doch nicht lügen! Doch, erwiderte der Philosoph Ludwig Wittgenstein: „Die Wahrheit ist: Die Photographie lügt immer. Oder sie lügt nur in seltenen Ausnahmen nicht.“Mit dieser Art von Lüge spielte er, indem er seinen Begleiter auf einer Frankreich-Reise so fotografierte, als suchte da ein Gangster oder ein Detektiv aus dem Chicago der 1930erJahre seinen Verfolger.
Die Lüge im Sinne Wittgensteins wäre auch noch anders zu verstehen: Ein Foto vermittelt den Eindruck, man sähe ein Stück Wirklichkeit oder gar einen Menschen. Dabei sei es nur eine „willkürliche Übersetzung des Räumlichen // gesehenen Objekts in schwärzliche und weißliche Flecken“. Form, Farbe, Bewegung oder Ruhe, die eine Situation oder ein Wesen ausmachten, seien auf einem Foto nicht zu unterscheiden.
Solchen Fragen spürt das Leopold Museum in Wien seit Ende der
Vorwoche in einer raffinierten Ausstellung nach. Diese ist dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gewidmet, doch nicht seinen Schriften wie dem „Tractatus logico-philosophicus“und seinen Erkenntnissen wie „wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“, sondern den Spielen mit und den Anregungen aus der Fotografie.
Apropos Spiel: Über Bilder lässt sich nachvollziehen, was Wittgenstein mit dem Satz gemeint haben könnte: „Man kann sagen, der Begriff ,Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern“. Im Spiel werden eindeutige Regeln vorgegeben, die aber in der Ausführung von Spielenden viele Deutungen zulassen. Ein fotografisches Pendant ist die vom französischen Fotografen Francis Galton in den 1870er-Jahren erfundene Methode zur Typologisierung
von Menschen: Zwei möglichst ähnliche Fotos von zwei Gesichtern werden so abfotografiert, dass die übereinstimmenden Bereiche voll belichtet sind, doch die unterschiedlichen gleiten unscharf in den Hintergrund ab. Das Gemeinsame ist scharf sichtbar, das Individuelle ist unscharf. Wittgenstein erkennt in den Unschärfen die individuellen Charakteristika, die sich nicht allgemein fassen lassen. Und er schlägt von dieser fotografischen Bildfindung die Brücke zur sprachlichen Begriffsfindung: In seiner Ethikvorlesung im November 1929 habe er „Ethik“nicht einfach definiert, sondern aus mehreren Begriffen die Essenz von Ethik als Schnittmenge vermittelt, schildert die Kuratorin Verena Gamper im Katalog.
Das Faszinierende an dieser Schau, die um Kunstwerke von Christian Boltanski, Ólafur Elíasson, Anna Jermolaewa, Birgit Jürgenssen, Katharina Sieverding, Andy Warhol und Otto Zitko erweitert ist: Bilder können ebenso eine denkend zu gewinnende Einsicht vermitteln wie Sprache – manchmal mit unvergleichlichen Ergebnissen, und manchmal so sinnfällig wie die Galton’sche Fotografie und das Erkennen, dass jede noch so präzise Verallgemeinerung immer auch Unschärfen erzeugt. Und so wie sprachliche Sätze eines Autors sind auch Fotos eines Fotografen nur reduzierte und über Absicht geformte Abbilder der Welt. Im Leopold Museum ist Ludwig Wittgenstein als Fotograf wie als Sammler und Arrangeur von Fotos zu entdecken. Ausgestellt sind Fotos, die in seinem Besitz waren, von ihm beauftragt oder selbst angefertigt wurden oder über die er sich geäußert hat, insbesondere sein außergewöhnliches Fotoalbum: In ein blau liniertes Notizbuch hat er 102 teilweise von ihm beschnittene Fotos aus vier Jahrzehnten geklebt, ebenso ohne Beschriftung – genauso wie es üblich ist, eine sprachliche Notiz ohne Foto zu belassen.
„Wie gesagt: Denk nicht, sondern schau!“