„Fahler als fahl“
Ich gehe nicht viel raus. Ich seh dem Gärtner zu, wie er vor dem Fenster den Garten pflegt, das reicht mir an frischer Luft. Das denk ich mir im Lockdown, und während ich das denke, denke ich mir: „Irgendwie hängt alles immer zusammen. Du kannst dir am Hintern ein Haar ausreißen und dir tränt das Auge!“Im Hintergrund läuft „A Whiter Shade Of Pale“von Procol Harum in einem Regionalradio. Das Lieblingslied von John Lennon und Ulrike Meinhof. Das Lied gilt als der unverständlichste Popsong der Geschichte.
Kein Mensch versteht ihn, trotzdem stand der in Mono aufgenommene Song nur drei Wochen nach dem Erscheinen auf Platz 1 in England und nach wenigen Tagen waren vierhunderttausend Singles verkauft worden, obwohl es keiner kapiert hatte. Das Gute am Lockdown ist, wenn man ihn ernst nimmt, dass man so vor sich hin denkt. Nicht dass Denken immer eine fruchtbare Tätigkeit ist, aber so ein bisserl Narrenkasten mit ein, zwei Gedanken und dem Bild des arbeitenden Gärtners, der durch die viele frische Luft bestimmt seinen Lungen Gutes tut, das kann mir schon gefallen.
Kurz brach ich den Lockdown, um in die Trafik zu gehen. Ein blasser, buckliger Herr mit Mund-Nasen-Schutz, den er offensichtlich auch als Rotzfahne, also Taschentuch, in Verwendung hat, sah mich an und sagte: „Mah, san Sie schiach in echt. Im Fernsehen san S’ schöner!“Dann schniefte er. Vielleicht weinte er, weil ich in echt so schiach bin. Vielleicht zog er aber auch nur seine volle Nase hinauf.
Draußen, an der Bim-Haltestelle, hörte ich zwei älteren Herren zu. Der eine sagte: „Sie entscheidet bei den kleinen Dingen, ich bei den großen. Aber sie entscheidet, was groß oder klein ist.“Der andere nickte traurig. Er schien das aus seiner Beziehung zu kennen oder er kannte den Witz.
Eine Dame mit Pelz kam zu mir und sagte: „Sie sehen in echt viel schöner aus als im Fernsehen.“
Ich stieg ein und sehnte mich nach meiner Wohnung und meinem Narrenkastl mit Aussicht. Der Gärtner hatte sich inzwischen hingesetzt und rauchte eine filterlose Zigarette. Die ganze gute Luft für die Katz, dachte ich und plötzlich fiel mir ein, dass ich einmal davon geträumt hatte, dass es von mir einen Klon gäbe, der im Keller eingesperrt war und nur für den Fall zum Einsatz kam, dass bei mir organisch etwas nicht passte. Im Traum brauchte ich eine neue Lunge und ich ging in den Keller. Dort sah ich, wie mein Klon Gauloises ohne Filter rauchte und hustete. „Na, bravo“, dachte ich im Traum.
Im Radio lief entweder immer noch „A Whiter Shade Of Pale“oder schon wieder.
Ich versuchte, den Text zu begreifen, scheiterte aber.
Als Kind hatte ich meine Eltern schockiert, als ich sagte: „Ich will später, wenn ich groß bin, zur RAF.“Ich meinte aber die Royal Air Force. Da waren meine Eltern beruhigt und erklärten mir, dass dem entgegenstünde, dass ich Deutscher sei und Flugangst hätte.
„Dann eben nicht“, hatte ich damals gesagt und ich freute mich jetzt, als Erwachsener, dass ich damals schon so klug war. So schafft man Lockdowns. Ich winkte dem Gärtner freundlich zu und er schnitt irgendetwas Buntes von irgendeinem Zweig. „Fahler als fahl“könnte man das Lied übersetzen. Ungefähr so fahl wie die Gesichtsfarbe des Buckligen in der Trafik. Dachte ich bei mir und schaute aus dem Fenster. Der Gärtner schaute von draußen zu mir rein. Wir nickten beide stumm. Keine Ahnung, warum.