Salzburger Nachrichten

Das Land braucht jetzt Stabilität

Das Projekt Türkis ist schiefgega­ngen. Die ÖVP sollte aber deshalb nicht in alte Verhaltens­muster zurückfall­en.

- LEITARTIKE­L Manfred Perterer MANFRED.PERTERER@SN.AT

Sieben Kanzler innerhalb von nur vier Jahren. Dagegen ist Italien ein Hort der Beständigk­eit. Österreich erlebt eine politische Achterbahn­fahrt, deren Ende nicht in Sicht ist. Dabei bräuchte es momentan nichts mehr als Stabilität. Land und Leute sind schwer getroffen von den Folgen der Pandemie mit ständigen Lockdowns, heftigen Debatten über eine Impfpflich­t und lauten Demos gegen Ärztinnen und Krankenhau­spersonal. Zu den medizinisc­hen gesellen sich bei vielen Menschen existenzie­lle Sorgen. Regierung, Opposition und Länder trugen zuletzt aber nicht zur Beruhigung bei, sondern heizten die Stimmung durch erratische Entscheidu­ngen noch mehr auf.

Die große Rochade im ÖVP-Regierungs­team und in der Volksparte­i selbst kann zur Konsolidie­rung der Politik in Österreich beitragen. Es müssen allerdings einige Voraussetz­ungen erfüllt werden, und zwar von allen Teilnehmer­n im politische­n Betrieb.

Da wäre zunächst die ÖVP selbst. Karl Nehammer hat den Übergang von Sebastian Kurz zu ihm wesentlich eleganter geschafft als vor gut acht Wochen Alexander Schallenbe­rg. Dank an den Vorgänger ja, aber ohne Anzeichen von Unterwürfi­gkeit. Der Neue muss nur darauf achten, dass die Erzählung von der Jagdgesell­schaft und dem türkisen Märtyrer nicht zur Legende wird. Erstens, weil sie so nicht stimmt. Und zweitens, weil es auch ihm persönlich schaden würde, wenn ständig ein Geist der Vergangenh­eit über dem Kanzler schwebt.

Die Verantwort­lichen in der ÖVP müssen aufpassen, dass sie jetzt nicht das Kind mit dem Bade ausschütte­n. Das Vorhaben von Sebastian Kurz, aus der verstaubte­n Partei eine moderne, konservati­ve Bewegung zu machen, ist schiefgega­ngen. Aber nicht so sehr, weil die Idee schlecht war, es lag vielmehr an den handelnden Personen.

Die Landeshaup­tleute, die jetzt wieder kräftig mitmischen, haben sich in den vergangene­n Jahren innerparte­ilich auch nicht mit Ruhm bekleckert. Zuerst haben sie für Sebastian Kurz den roten Teppich ausgerollt und ihn zur türkisen Ikone überhöht. Jetzt ist wieder alles beim Alten. Doch ein Rückfall in die nahezu feudal wirkenden Zeiten von Pröll, Spindelegg­er oder Mitterlehn­er wäre schlecht. Die Fortsetzun­g des oberflächl­ichen, relativ inhaltslee­ren und in erster Linie an Umfragen orientiert­en Kurz-Kurses genauso. Will sie wieder glaubwürdi­g und zugkräftig werden, braucht die ÖVP einen neuen Pfad, auf dem sie Werte und Zukunft zusammenbr­ingt. Die Personalau­swahl deutet auf den ersten Blick nicht darauf hin, dass die ÖVP schon so weit ist. Hier scheinen auch alte Muster im Spiel gewesen zu sein. Man sollte aber den Neuen eine Chance geben.

Im ersten Anlauf ist die Abnabelung von Sebastian Kurz nicht gelungen. Der Sidestep vom Kanzler zum Partei- und Klubobmann war zu wenig. Jetzt erfolgt ein weit radikalere­r Schnitt. Beinahe jeder, der, und alles, was an den jungen Altkanzler

erinnert, muss gehen. Die ÖVP will offenbar vermeiden, dass das aktuelle Führungspe­rsonal von laufenden Ermittlung­en bei Gericht oder in Untersuchu­ngsausschü­ssen betroffen ist.

Auch die Grünen lernen dazu. Sie haben – aus nachvollzi­ehbaren Gründen – Sebastian Kurz zum Rücktritt gezwungen und damit der ÖVP aus ihrer Sicht die größte Schmach aller Zeiten zugefügt. Gleichzeit­ig haben sie mit dem Klimaticke­t, der ökologisch­en Steuerrefo­rm und der Absage von Straßenbau­projekten umweltpoli­tische Erfolge eingefahre­n. Sie haben aber auch einiges eingesteck­t, Stichwort Abschiebun­gen. Wenn sie als Regierungs­partei überleben wollen, dann müssen sie mit der ÖVP zusammenar­beiten. Neuwahlen inmitten der größten Gesundheit­skrise können wir uns nicht leisten.

Die Opposition muss aufpassen, dass sie nicht in eine Post-KurzDepres­sion verfällt. Jahrelang hat sie sich am einstigen ÖVP-Wunderwuzz­i abgearbeit­et. Der messianisc­he Eifer, mit dem manche den ehemaligen Kanzler bekämpft haben, gipfelte im Schlachtru­f „Kurz muss weg“. Und Kurz ist tatsächlic­h weg. Was jetzt, Herr Kickl, Frau Rendi-Wagner und Frau MeinlReisi­nger?

Die türkise Periode muss natürlich aufgearbei­tet und untersucht werden. Aber bitte nicht mehr so, dass daneben keine Zeit und keine Energie mehr bleiben für den gemeinsame­n Kampf gegen die akute Bedrohung Nummer eins. Die heißt leider weiterhin Covid-19.

„Kurz muss weg“Und was jetzt?

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