Das Land braucht jetzt Stabilität
Das Projekt Türkis ist schiefgegangen. Die ÖVP sollte aber deshalb nicht in alte Verhaltensmuster zurückfallen.
Sieben Kanzler innerhalb von nur vier Jahren. Dagegen ist Italien ein Hort der Beständigkeit. Österreich erlebt eine politische Achterbahnfahrt, deren Ende nicht in Sicht ist. Dabei bräuchte es momentan nichts mehr als Stabilität. Land und Leute sind schwer getroffen von den Folgen der Pandemie mit ständigen Lockdowns, heftigen Debatten über eine Impfpflicht und lauten Demos gegen Ärztinnen und Krankenhauspersonal. Zu den medizinischen gesellen sich bei vielen Menschen existenzielle Sorgen. Regierung, Opposition und Länder trugen zuletzt aber nicht zur Beruhigung bei, sondern heizten die Stimmung durch erratische Entscheidungen noch mehr auf.
Die große Rochade im ÖVP-Regierungsteam und in der Volkspartei selbst kann zur Konsolidierung der Politik in Österreich beitragen. Es müssen allerdings einige Voraussetzungen erfüllt werden, und zwar von allen Teilnehmern im politischen Betrieb.
Da wäre zunächst die ÖVP selbst. Karl Nehammer hat den Übergang von Sebastian Kurz zu ihm wesentlich eleganter geschafft als vor gut acht Wochen Alexander Schallenberg. Dank an den Vorgänger ja, aber ohne Anzeichen von Unterwürfigkeit. Der Neue muss nur darauf achten, dass die Erzählung von der Jagdgesellschaft und dem türkisen Märtyrer nicht zur Legende wird. Erstens, weil sie so nicht stimmt. Und zweitens, weil es auch ihm persönlich schaden würde, wenn ständig ein Geist der Vergangenheit über dem Kanzler schwebt.
Die Verantwortlichen in der ÖVP müssen aufpassen, dass sie jetzt nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Das Vorhaben von Sebastian Kurz, aus der verstaubten Partei eine moderne, konservative Bewegung zu machen, ist schiefgegangen. Aber nicht so sehr, weil die Idee schlecht war, es lag vielmehr an den handelnden Personen.
Die Landeshauptleute, die jetzt wieder kräftig mitmischen, haben sich in den vergangenen Jahren innerparteilich auch nicht mit Ruhm bekleckert. Zuerst haben sie für Sebastian Kurz den roten Teppich ausgerollt und ihn zur türkisen Ikone überhöht. Jetzt ist wieder alles beim Alten. Doch ein Rückfall in die nahezu feudal wirkenden Zeiten von Pröll, Spindelegger oder Mitterlehner wäre schlecht. Die Fortsetzung des oberflächlichen, relativ inhaltsleeren und in erster Linie an Umfragen orientierten Kurz-Kurses genauso. Will sie wieder glaubwürdig und zugkräftig werden, braucht die ÖVP einen neuen Pfad, auf dem sie Werte und Zukunft zusammenbringt. Die Personalauswahl deutet auf den ersten Blick nicht darauf hin, dass die ÖVP schon so weit ist. Hier scheinen auch alte Muster im Spiel gewesen zu sein. Man sollte aber den Neuen eine Chance geben.
Im ersten Anlauf ist die Abnabelung von Sebastian Kurz nicht gelungen. Der Sidestep vom Kanzler zum Partei- und Klubobmann war zu wenig. Jetzt erfolgt ein weit radikalerer Schnitt. Beinahe jeder, der, und alles, was an den jungen Altkanzler
erinnert, muss gehen. Die ÖVP will offenbar vermeiden, dass das aktuelle Führungspersonal von laufenden Ermittlungen bei Gericht oder in Untersuchungsausschüssen betroffen ist.
Auch die Grünen lernen dazu. Sie haben – aus nachvollziehbaren Gründen – Sebastian Kurz zum Rücktritt gezwungen und damit der ÖVP aus ihrer Sicht die größte Schmach aller Zeiten zugefügt. Gleichzeitig haben sie mit dem Klimaticket, der ökologischen Steuerreform und der Absage von Straßenbauprojekten umweltpolitische Erfolge eingefahren. Sie haben aber auch einiges eingesteckt, Stichwort Abschiebungen. Wenn sie als Regierungspartei überleben wollen, dann müssen sie mit der ÖVP zusammenarbeiten. Neuwahlen inmitten der größten Gesundheitskrise können wir uns nicht leisten.
Die Opposition muss aufpassen, dass sie nicht in eine Post-KurzDepression verfällt. Jahrelang hat sie sich am einstigen ÖVP-Wunderwuzzi abgearbeitet. Der messianische Eifer, mit dem manche den ehemaligen Kanzler bekämpft haben, gipfelte im Schlachtruf „Kurz muss weg“. Und Kurz ist tatsächlich weg. Was jetzt, Herr Kickl, Frau Rendi-Wagner und Frau MeinlReisinger?
Die türkise Periode muss natürlich aufgearbeitet und untersucht werden. Aber bitte nicht mehr so, dass daneben keine Zeit und keine Energie mehr bleiben für den gemeinsamen Kampf gegen die akute Bedrohung Nummer eins. Die heißt leider weiterhin Covid-19.
„Kurz muss weg“Und was jetzt?