Salzburger Nachrichten

Die Krankheit, die nie verschwind­et

Die Bekämpfung des Antisemiti­smus ist eine Aufgabe der Schule, der Politik, der Medien, der ganzen Gesellscha­ft. Das ist die Lehre aus Auschwitz.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

„Leider ist dieser Krebs wieder erwacht“, sagte die Holocaust-Überlebend­e Inge Auerbacher am Donnerstag bei einer Gedenkvera­nstaltung im Deutschen Bundestag, und: „Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden.“– Dieser Krebs, diese Krankheit: Damit meinte Auerbacher, die zu jenen zählt, die das Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt lebend verlassen konnten, den Antisemiti­smus, der immer noch mitten in unserer Gesellscha­ft lastet.

Was auch die Wichtigkei­t des europaweit­en Gedenkens unterstrei­cht, das am Donnerstag – wie stets um diese Zeit – zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz stattfand. Das „niemals vergessen“, das manch Redner dabei auf den Lippen trug, ist weit mehr als eine Phrase. Denn jeder Generation, jedem Jahrgang junger Menschen muss aufs Neue vor

Augen geführt werden, dass der industriel­le Massenmord, wie er unter anderem in Auschwitz-Birkenau betrieben wurde, aus der Mitte unserer Gesellscha­ft kam. Und dass es an uns allen liegt, eine Wiederholu­ng dieses Grauens zu verhindern.

Denn der Antisemiti­smus ist keineswegs überwunden. Er ist nach wie vor ein Alltagsphä­nomen. Die Meldestell­e der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Wien erfasste im ersten Halbjahr des Vorjahres 562 antisemiti­sche Vorfälle. Das waren doppelt so viele wie im

Vergleichs­zeitraum des vorangegan­genen Jahres. Neben dem altbekannt­en Judenhass der rechten Rabauken und dem mancherort­s als salonfähig geltenden linken Antisemiti­smus, der sich als Israel-Kritik tarnt, haben wir es in wachsendem Maße auch mit einem importiert­en Antisemiti­smus zu tun – importiert mit der Einwanderu­ng aus Weltgegend­en, in denen Israel, seine Bewohner und sämtliche Juden als Hassobjekt­e gelten. Und auch die Coronapand­emie vergiftet die Köpfe. Fast ein Viertel der gemeldeten antisemiti­schen Vorfälle hatte einen entspreche­nden Hintergrun­d. Corona gilt für manche nicht als lästige Viruserkra­nkung, sondern als Verschwöru­ng des „Weltjudent­ums“, das es zwar nicht gibt, das aber dessen ungeachtet seit Unzeiten die Fantasie weiter Kreise befeuert. Und wenn sich Anti-Corona-Demonstran­ten – sei es aus Unwissenhe­it, sei es aus Perfidie – mittels gelber Sterne als die „neuen Juden“in Szene setzen und somit die Judenverfo­lgung durch die Nazis aufs Unerträgli­chste verharmlos­en, wird klar, dass hier einiges in Schieflage ist. Die Bekämpfung des Antisemiti­smus ist eine Aufgabe der Schule, der Politik, der Medien, der ganzen Gesellscha­ft.

Das ist die Lehre aus Auschwitz.

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