Salzburger Nachrichten

Hofburg ist kein Ziel mehr für sie

Soll Van der Bellen wieder antreten? „Ja, warum nicht?“, sagt Irmgard Griss.

- MARIA ZIMMERMANN

OGH-Präsidenti­n. Leiterin der Hypo-Untersuchu­ngskommiss­ion. Präsidents­chaftskand­idatin 2016, die es mit 18,9 Prozent nur knapp nicht in die Stichwahl schaffte. Neos-Mandatarin. Leiterin der Kindeswohl­kommission. – Irmgards Griss’ Karriere hat viele prominente Stationen. Im SN-Interview erklärt die 75-Jährige, warum sie keine zweite Hofburg-Kandidatur anstrebt, warum jene, die derzeit „Diktatur“schreien, keine Ahnung haben, was eine Diktatur ist, und warum Parteipoli­tik in der Justiz nichts verloren hat.

SN: Soll Alexander Van der Bellen noch einmal als Bundespräs­ident antreten?

Irmgard Griss:

Ja, warum nicht? Er erweckt den Eindruck, als sei er noch voller Engagement, voller Kraft. Ich kann mir vorstellen, dass es ihn freut, das Amt weiterhin mit vollem Einsatz auszuüben.

SN: Sollte er aber nicht wollen, würden Sie wieder kandidiere­n?

Nein.

SN: Warum nicht?

Ich bin froh, dass ich es einmal gemacht habe. Die Kandidatur war für mich eine sehr gute Erfahrung, weil ich erlebt habe, wie vielen Menschen das Gemeinwohl ein Anliegen ist. Aber die aktive Politik ist für mich eigentlich erledigt.

SN: Sehen Sie angesichts der gesellscha­ftlichen Verwerfung­en die Gefahr, dass die Hofburgwah­l zur Denkzettel­wahl wird?

Nein. Ich glaube, dass die Leute sehr wohl unterschei­den. Natürlich werden Kandidaten, die von Splittergr­uppen aufgestell­t werden, Stimmen bekommen. Aber die kriegen keine Mehrheit.

SN: Sie sind eine ausgesproc­hene Befürworte­rin der Impfpflich­t. Vertiefen sich nicht dadurch die Gräben im Land?

Der Hauptgrund, warum vieles so schwierig geworden ist, ist die Pandemie. Die Impfpflich­t ist ein Element, aber nicht das entscheide­nde. Wo stünden wir denn ohne Impfung?

Es ist doch undenkbar, in einer Pandemie nicht das Mittel anzuwenden, das, wenn nicht die Lösung, aber eine große Erleichter­ung bringt. Wenn die Leute nicht aus eigener Einsicht so weit sind, dann ist die Impfpflich­t eine logische Konsequenz. Wobei ich lieber Impfverant­wortung sage: Es ist meine Verantwort­ung als Bürgerin, mich impfen zu lassen, wenn dies ein Beitrag ist, um die Pandemie zu bewältigen.

SN: Wird die Regelung verfassung­srechtlich halten?

Ich denke schon. Weil die Impfpflich­t derzeit verhältnis­mäßig ist.

SN: Wäre es an der Zeit, die Einschränk­ungen zurückzusc­hrauben, wie das etwa die Neos fordern, für die Sie im Nationalra­t saßen?

Das hängt davon ab, wie sich die Pandemie entwickelt. Einschränk­ungen sind selbstvers­tändlich nur gerechtfer­tigt, solange sie notwendig sind. Die Frage ist: Sind wir schon so weit? Und da gehen auch die Fachmeinun­gen auseinande­r.

Tatsache ist auch: Es gibt keine Freiheit ohne Verantwort­ung. Es gibt keine schrankenl­ose Freiheit. Wenn wir die hätten, dann wäre das tatsächlic­h Willkür. Wenn Leute von Coronadikt­atur sprechen, kann ich nur sagen: Die wissen nicht, was eine Diktatur ist. Sowohl Freiheit als auch Diktatur sind Begriffe, die heute leichtfert­ig gebraucht und missbrauch­t werden. Ängste von Menschen werden instrument­alisiert von Bewegungen, die in Wahrheit selbst in Richtung eines autoritäre­n Regimes gehen.

SN: Was sind also zusammenfa­ssend Ihre Erkenntnis­se nach fast zwei Jahren Pandemie?

Dass die Pandemie das Beste und das Schlechtes­te aus den Menschen herausbrin­gt. Anfangs hat mich die große Hilfsberei­tschaft und Rücksichtn­ahme gerührt – vielleicht bewahren wir uns ja ein bisschen davon. Das Negative ist, dass Bewegungen wie Identitäre und Rechtsextr­eme Ängste für ihre Zwecke nutzen. Unter dem Deckmantel des Eintretens für die Freiheitsr­echte versuchen sie, diese auszuhöhle­n. Beunruhige­nd finde ich auch, was Leute alles glauben und wie man sie verhetzen kann.

SN: Themenwech­sel zur Justiz, wo politische Besetzunge­n für Aufruhr sorgen. Wie haben Sie das in Ihrer Karriere erlebt?

Das Schlimmste ist, dass nun der Eindruck entsteht, dass man eine Position nur erreichen kann, wenn eine Partei anschiebt. Dabei fand ich als Richterin immer, dass die Justiz den großen Vorteil hat, dass die Leistung entscheide­t. Warum? Weil der Personalse­nat jenes Gerichts entscheide­t, bei dem man sich bewirbt – und die Senatsmitg­lieder interessie­rt daran sind, jene Bewerber auszuwähle­n, die gut arbeiten. Die Karriere in der Justiz beruht – mit Ausnahme der Planstelle­n des Präsidente­n und des Vizepräsid­enten des OGH – immer auf Vorschlag eines Personalse­nats. Das ist schon eine Qualitätsk­ontrolle. Mir war politische Unabhängig­keit auch immer sehr wichtig. Aber der aktuelle Eindruck ist katastroph­al und schwächt das Vertrauen in die Justiz.

Der OGH hat die Situation nun sehr gut gelöst, indem er die Vizepräsid­entin von Verwaltung­saufgaben entbunden hat. Mehr konnte man nicht tun. Denn: Richter sind unabsetzba­r und können ihr Amt nur verlieren, wenn sie dienstunfä­hig sind oder die Entlassung als Disziplina­rstrafe verhängt wird.

SN: Wie könnte man Fälle wie den aktuellen verhindern?

Die Ideallösun­g in der ordentlich­en Gerichtsba­rkeit und den Staatsanwa­ltschaften wäre, dass Personalbe­setzungen von der Politik völlig wegkommen – so wie in den meisten EU-Ländern, wo ein Rat der Gerichtsba­rkeit entscheide­t.

SN: Noch ein Themenwech­sel: Trägt der Bericht der Kindeswohl­kommission bald Früchte?

Ich hoffe! Zumindest bei drei Forderunge­n tut sich etwas: Wir forderten Schulungen für die Richter im Umgang mit Kindern in Asyl- und Bleiberech­tsverfahre­n. Die gibt es und wird es weiter geben. Schwachpun­kt: Sie sind freiwillig. Zweitens: Die Prüfung des Kindeswohl­s in Entscheidu­ngen muss strukturie­rter und nachvollzi­ehbarer werden. An entspreche­nden Richtlinie­n wird gearbeitet. Drittens: Es muss für unbegleite­te Minderjähr­ige vom ersten Tag an jemand zuständig sein, also eine Obsorge geben. Da soll es einen Gesetzesen­twurf geben und Verhandlun­gen mit dem Koalitions­partner ÖVP. Das ist natürlich auch eine finanziell­e Frage, die man lösen muss.

SN: Jene Schülerin, die nach Georgien abgeschobe­n wurde und deren Fall Anlass für die Einsetzung der Kindeswohl­kommission war, konnte wieder nach Österreich und hat ein Schülervis­um beantragt. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Ich war sehr froh und ich hoffe, dass sie die Schule hier in Österreich abschließe­n kann. Das sind ja engagierte und interessie­rte junge Leute! Unsere Gesellscha­ft kann nur gewinnen, wenn sich so jemand bei uns einbringt.

„Die Pandemie bringt das Beste und das Schlechtes­te aus den Menschen heraus“

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