Salzburger Nachrichten

Der Krieg hat sich in meine Träume eingeschli­chen

Der Krieg bestimmt nicht nur meine Gedanken am Tag, sondern auch in der Nacht. Zumindest bis die Sirene uns wieder aus dem Schlaf reißt.

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Seit knapp einen Monat können wir nicht ruhig schlafen. Und es gibt noch was. Der Krieg hat sich in unsere Träume eingeschli­chen. Es dauert ein bisschen, bis unser Unterbewus­stsein neue Informatio­nen verarbeite­t. Einige Sachen findet die Psyche generell nicht wichtig. Von seinem Handy träumt man eher selten. Was uns nachhängt, sind Erlebnisse und Emotionen, die die eigene Geschichte ausmachen.

Am Sonntag habe ich von einem Buben geträumt, den ich nach Hause bringen musste. Er war traurig und wollte nach langer Zeit seine Eltern sehen. Ich wusste, dass sein Papa nicht zu Hause war, und musste ihm das erklären. „Vielleicht ist deine Mama da?“, sagte ich im Traum. Als wir uns dem Haus näherten, begriff ich, dass es unser Familienha­us war.

In der Tür stand eine freundlich­e Frau in einer Schürze. Eine komplett fremde Frau. Der Bub musste bei ihr bleiben, weil er keine Verwandten mehr hatte.

Nach langen Spaziergän­gen durch Lemberg sind meine Beine und Füße sehr müde geworden. Und nachts träume ich davon, dass meine Füße mir den Dienst ganz und gar versagen. Im Traum bin ich eine Rollstuhlf­ahrerin, bin in Kyjiw und habe eine dringende Aufgabe zu erledigen. Aber ich kann nicht gut durch die Hauptstadt manövriere­n. Ich schaue mich um: keine Gebäude, keine Menschen, nur eine einzige Straße voller Erde und Kies.

Dann weckt uns die Sirene auf. Ich bitte meinen Freund, das Klappbett in den Flur zu bringen. Dort gibt es doppelte Wände. Ich hole auch ein paar Bananen und Wasser aus der Küche. Kaffee trinke ich nicht mehr. Er macht mich ängstlich. Und ängstlich bin ich schon genug. Wir warten auf die nächste Sirene, die uns signalisie­rt, dass es nun wieder sicher ist.

Nach dem Frühstück rufe ich meine Eltern und meine Schwägerin an. Sie bleibt jetzt zusammen mit meinem Neffen in einem Dorf in einer sicheren Region. Nach zwei Minuten Telefonat verstehe ich, dass sich etwas geändert hat. Etwas Kleines und trotzdem Wichtiges. Ich höre meine russischsp­rachige Schwägerin zum ersten Mal in meinem Leben fließend Ukrainisch sprechen. Ihre Stimme wirkt auf mich wie eine schöne, längst vergessene Melodie. Es freut mich sehr. Vielen Ukrainerin­nen und Ukrainern geht es so. Russischsp­rachige fangen an, Ukrainisch zu sprechen – nicht, weil sie dazu gezwungen wurden, sondern weil sie etwas verstanden haben: Sprache ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Sie ist ein Symbol dafür, dass wir Ukrainer zusammenge­hören. Dieses Verständni­s, dieses Bewusstsei­n ist viel wert.

Und hat einen hohen Preis.

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Daryna Melashenko, 26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.
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