Auch Familien haben ihre Geheimnisse
Die Opéra de Lyon setzt mit einem neuen Intendanten den Erfolgskurs fort. Junge Regisseure locken junges Publikum zum Opernfestival.
LYON. Mitten in der Pandemie ist er 2021 eingestiegen, Richard Brunel, der neue Intendant der Opéra de Lyon. 18 Jahre lang hatte sein Vorgänger Serge Dorny das markante Opernhaus geleitet und es zu einem international bestaunten Brennpunkt bis hin zum „Opernhaus des Jahres“geführt. Brunel will Dornys innovativen Kurs fortsetzen, der möglichst vielen Menschen Oper näherbringen wollte. Das führte in Lyon zu einem außerordentlichen Altersdurchschnitt im Publikum: Selten sieht man derart viele junge Menschen in Opernhäusern. Brunel hat viele Ideen, die er auch bei gekürztem Budget durchziehen will. Lyon bleibt weiterhin interessant.
Und eine Tradition Dornys führt Brunel ebenso fort, das jährliche Opernfestival, das am Wochenende vor ausverkauftem Haus startete. Drei Produktionen sind gebündelt, „Rigoletto“eröffnete die Aufführungsserie. „Trauernacht“nannte Katie Mitchell ihre Szenenfolge einer Totenwache, die sie entlang einer Auswahl aus Bach-Kantaten zusammenfügte. Mit Spannung erwartet wurde Franz Schrekers Opernrarität „Irrelohe“, die sich mit der Geschichte um ein düsteres Generationenerbe am engsten an das Festivalmotto „Familiengeheimnisse“schmiegt.
Die Idee, „Rigoletto“und „Irrelohe“deutschen Regisseuren der jungen Generation anzuvertrauen, stammt noch von Dorny. Dass Axel Ranisch vor allem das Machogehabe in Verdis „Rigoletto“auf Standfestigkeit abklopfen würde, war zu erwarten. Ranisch ließ viele ein wenig ratlos zurück, Buhs sind eigentlich selten in Lyon. Er verdoppelte Figuren, ließ seine Gedanken in Videos sprießen. Rigoletto hat einen stummen Zeugen, Doppelgänger, Besserwisser, der es im „wirklichen“Leben anders machen würde als der Narr von Mantua. Die VaterTochter-Beziehung wurde so ausgebaut, Geschlechterrollen infrage gestellt, im multifunktionalen Plattenbauambiente wurde es überraschend suizidal. Allerdings hatte Ranisch auch witzige Einfälle, ein kleiner Trost. Die Besetzung war durchwegs ordentlich, Dalibor Jenis als Rigoletto und Nina Minasyan als blitzsaubere Gilda stachen heraus neben dem Ukrainer Roman Chabaranok als Monterone und Gianluca Buratto als Sparafucile. Daniele Rustioni, der neue Chefdirigent, führte ausgezeichnet durch die Verdi-Italianità.
Im Gegensatz zu Ranisch hielt sich David Bösch bei „Irrelohe“erstaunlich nahe am Libretto. Die „schräge“Geschichte eines Familienfluchs umzudeuten wäre schon ob der Unbekanntheit unklug gewesen, Bösch erzählte im hochästhetischen Bühnenbild mit Dauernebel die Tragik von Vergewaltiger-Adel und seinen Opfern bis zum zugespitzten Finale. Toll gesungen von Tobias Hächler (Graf Heinrich), Julian Orlishausen (Halbbruder Peter), Ambur Braid (verwirrter Liebesmittelpunkt Eva), Lioba Braun (alte Lola) oder Michael Gniffke (Brandstifter Christobald). Auch wenn auf der Bühne zuletzt das Schloss abgefackelt wird, so setzte Dirigent Bernhard Kontarsky im Graben mitunter zu sehr auf Feuer.