Salzburger Nachrichten

Die Mutigen von Moskau

Alexej Nawalnys Haft ist verlängert worden. Eine Verneigung vor Menschen, die protestier­en – und dafür alles riskieren.

- GUDRUN.DORINGER@SN.AT Gudrun Doringer

Die Videoaufna­hmen aus dem Straflager in Pokrow, 100 Kilometer östlich von Moskau, zeigten einen abgemagert­en, groß gewachsene­n Mann, der sich immer wieder den Kameras zuwendet und sich ein Lächeln abringt. Alexej Nawalny, der dort bereits seit über einem Jahr einsitzt, wurde am Dienstag zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt. Dann wäre der Kremlgegne­r, sofern er das Lager überlebt, 54. Die Jugend seiner Kinder – verpasst. Das eigene Leben – ein ferner Traum. Wofür?

Putins Propaganda flimmert noch immer über die Bildschirm­e in den russischen Wohnzimmer­n. Eine Verhaftung­swelle rollt durchs Land, unabhängig­e Medien verschwind­en. Glauben, meinen, kritisiere­n – das sind Freiheiten, die in Russland der Furcht gewichen sind. Die Namenslist­en der Geheimdien­ste werden länger. Wer trotzdem auf die Straße geht, um zu protestier­en, beweist ungemein viel Mut. Es sind nicht mehr viele, die es wagen. Aber hinter jedem Einzelnen stehen Tausende Verstummte, die ihre Kritik nur mehr am Küchentisc­h austausche­n.

Putin führt einen Krieg außen und einen innen. In seiner Gedankenwe­lt plädieren all jene, die gegen seine Politik demonstrie­ren, für die Unfreiheit, für die Unterwerfu­ng unter den Westen und die Preisgabe dessen, was Russland ausmacht. Deswegen lässt er Abweichler mit aller Härte verfolgen. Die Erzählung vom russischen Großreich zieht nicht mehr bei allen, schon gar nicht bei den Jungen, die es nicht mehr erlebt haben.

Wägt man die Erfolgsaus­sichten eines Protests gegen die Risiken für das eigene Leben ab, könnte man es bleiben lassen. Nawalny, Owsjanniko­wa, Politkowsk­aja, Nemzow und die vielen Namenlosen haben anders entschiede­n. Marina Owsjanniko­wa riskierte für ihren sechssekün­digen Antikriegs­protest im russischen Staatsfern­sehen 15 Jahre Haft. Die Journalist­in Anna Politkowsk­aja wurde für ihre Kritik ermordet. Ebenso der Demokrat Boris Nemzow. Es ging diesen Menschen um mehr als Überleben, es ging um das Wie. Darum, zwischen Gewissen und Verdrängen eine Entscheidu­ng zu treffen, Zukunftspe­rspektiven zu formen und freiere Luft zu atmen.

Der Mut dieser Menschen ist auch dann zu bewundern, wenn er scheitert. Gerade dann. Die französisc­he Résistance, die Geschwiste­r Scholl, die Frauen von Belarus, die Mutigen von Moskau – wie wichtig waren und sind ihre Stimmen. Sie sind Risse im Schweigen der Mehrheit und bringen diese zum Nachdenken.

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