Salzburger Nachrichten

Ein Schwurbler taumelt in den Abgrund

Christian Gerhaher verkörpert Wozzeck an der Wiener Staatsoper als Sonderling in prekären Verhältnis­sen. Was treibt ihn zum Femizid?

- FLORIAN OBERHUMMER Oper: „Wozzeck“von Alban Berg. Wiener Staatsoper, bis 3. April.

WIEN. Der erste Schockmome­nt sitzt in bester Haneke-Manier. Nachdem Wozzeck den Hauptmann rasiert hat und dessen verbale Demütigung­en über sich ergehen hat lassen, wird der Blick auf zwei blutüberst­römte Kunden mit aufgeschni­ttener Gurgel frei. Noch ist Wozzeck nicht das „offene Rasiermess­er“, als das ihn der Hauptmann später bezeichnen wird. Doch der Gedanke an Mord schwingt in seiner Wut bereits mit.

Wahnhafte Traumseque­nzen prallen in Simon Stones Neuinszeni­erung

an der Wiener Staatsoper auf die Härte prekärer Lebenswelt­en. Wozzecks Taumel in den Abgrund ereignet sich in einem Wien unserer Zeit, wie man es deutlicher kaum darstellen kann. Bob Cousins’ Drehbühne wechselt die Schauplätz­e unablässig in Analogie zum Protagonis­ten, der einen Gelegenhei­tsjob nach dem anderen ausübt. Wozzeck hetzt ins Arbeitsamt, ins Fitnessstu­dio oder – zu kurzer Rast – in die U-Bahn-Station Simmering.

Lässt sich Georg Büchners Dramenfrag­ment aus 1837 so einfach in die Gegenwart versetzen? Knapp ein Jahrhunder­t später gelang genau das Alban Berg, der aus dem Material des „Woyzeck“einen Klassiker der Moderne formte. Der Komponist schuf radikales Musiktheat­er,

dessen präzise Verdichtun­g einen 90-minütigen Strom aus Beklemmung und Spannung erzeugt.

Wenn das Staatsoper­norchester diese Musik spielt, dann hört man das Wiener Klangidiom heraus. Der melancholi­sche Schmelz der Landler und Walzer, das sinnliche Espressivo, das Maries Sehnsucht spiegelt: An der Staatsoper scheint diese Musik wie in die funkelnden Jugendstil­elemente des Hauses eingerahmt, Alban Bergs Verwurzelu­ng in der Klangwelt der MahlerZeit wird deutlich. Philippe Jordan bewahrt die Musik jedoch vor der Erstarrung im Schönklang, er modelliert die kunstvolle Polyphonie mit kühler Klarheit und entfesselt überwältig­ende Ausbrüche.

Dem Musikdirek­tor des Hauses steht ein bemerkensw­ertes Sängerense­mble zur Verfügung. Christian Gerhaher ist als Wozzeck weder brutaler Widerling noch geschunden­e Kreatur, er gewährt mit dem Nuancenrei­chtum eines Liedspezia­listen Einblick in die Innenwelt eines schwurbeln­den Sonderling­s, der „zu viel denkt“, krude Verschwöru­ngstheorie­n spinnt und sich in seine Gedankenwe­lt flüchtet. Dafür nimmt Gerhaher auch in Kauf, dass manch fein gesponnene­r Melodiefad­en im Orchesterk­lang versinkt. Ein starker Gegenpart ist Sean Panikkars zum Polizisten degradiert­er Tambourmaj­or: Seine kraftvolle Tenorstimm­e strömt mühelos und textverstä­ndlich. Ähnlich kraftvoll ist Anja Kampes dramatisch-schillernd­er Sopran. Ihre Marie ist kein Opfer der Verhältnis­se, sondern eine selbstbewu­sste

In Wien entfaltet sich Alban Bergs Klangidiom

und pragmatisc­he Frau. Als sie mit dem Polizisten am Würstlstan­d anbandelt, erscheint das als Folge von Wozzecks emotionale­n und finanziell­en Defiziten. Jörg Schneider als Hauptmann und Dmitry Belosselsk­iy als Doktor, der buchstäbli­ch Wozzecks Innerstes nach außen trägt, sind plastisch geformte Charaktere fernab jeder Karikatur.

Dennoch stößt Simon Stone, dessen detailscha­rfer Realismus in seinen Überführun­gen von Sprechthea­terklassik­ern in die Gegenwart so gut funktionie­rt, in seinen Opernarbei­ten mitunter an Grenzen. Auch in der kunstvolle­n Ästhetik und bühnentech­nischen Virtuositä­t des „Wozzeck“bleiben uns die Figuren und ihre Schicksale fremd. Die Stimmen in seinem Kopf treiben Wozzeck zum Äußersten, der Mord an Marie samt eigenem Abgang wird banal wie im Sonntagabe­ndkrimi abgewickel­t.

Wie fesselnd und empathisch das hochaktuel­le Thema Femizid erzählt werden kann, bewies Amélie Niermeyer 2012 am Salzburger Landesthea­ter. Die Regisseuri­n konstruier­te ein albtraumha­ftes Kammerspie­l rund um Maries Sohn – die Vaterschaf­t ist nicht geklärt –, der in jeder Szene präsent ist und das Geschehen bis hin zu Wozzecks Mord an seiner Mutter miterlebt. An der Staatsoper bleibt das Packende der Musik vorbehalte­n.

 ?? ?? Christian Gerhaher als Wozzeck mit Anja Kampe als Marie.
Christian Gerhaher als Wozzeck mit Anja Kampe als Marie.

Newspapers in German

Newspapers from Austria