Ein Schwurbler taumelt in den Abgrund
Christian Gerhaher verkörpert Wozzeck an der Wiener Staatsoper als Sonderling in prekären Verhältnissen. Was treibt ihn zum Femizid?
WIEN. Der erste Schockmoment sitzt in bester Haneke-Manier. Nachdem Wozzeck den Hauptmann rasiert hat und dessen verbale Demütigungen über sich ergehen hat lassen, wird der Blick auf zwei blutüberströmte Kunden mit aufgeschnittener Gurgel frei. Noch ist Wozzeck nicht das „offene Rasiermesser“, als das ihn der Hauptmann später bezeichnen wird. Doch der Gedanke an Mord schwingt in seiner Wut bereits mit.
Wahnhafte Traumsequenzen prallen in Simon Stones Neuinszenierung
an der Wiener Staatsoper auf die Härte prekärer Lebenswelten. Wozzecks Taumel in den Abgrund ereignet sich in einem Wien unserer Zeit, wie man es deutlicher kaum darstellen kann. Bob Cousins’ Drehbühne wechselt die Schauplätze unablässig in Analogie zum Protagonisten, der einen Gelegenheitsjob nach dem anderen ausübt. Wozzeck hetzt ins Arbeitsamt, ins Fitnessstudio oder – zu kurzer Rast – in die U-Bahn-Station Simmering.
Lässt sich Georg Büchners Dramenfragment aus 1837 so einfach in die Gegenwart versetzen? Knapp ein Jahrhundert später gelang genau das Alban Berg, der aus dem Material des „Woyzeck“einen Klassiker der Moderne formte. Der Komponist schuf radikales Musiktheater,
dessen präzise Verdichtung einen 90-minütigen Strom aus Beklemmung und Spannung erzeugt.
Wenn das Staatsopernorchester diese Musik spielt, dann hört man das Wiener Klangidiom heraus. Der melancholische Schmelz der Landler und Walzer, das sinnliche Espressivo, das Maries Sehnsucht spiegelt: An der Staatsoper scheint diese Musik wie in die funkelnden Jugendstilelemente des Hauses eingerahmt, Alban Bergs Verwurzelung in der Klangwelt der MahlerZeit wird deutlich. Philippe Jordan bewahrt die Musik jedoch vor der Erstarrung im Schönklang, er modelliert die kunstvolle Polyphonie mit kühler Klarheit und entfesselt überwältigende Ausbrüche.
Dem Musikdirektor des Hauses steht ein bemerkenswertes Sängerensemble zur Verfügung. Christian Gerhaher ist als Wozzeck weder brutaler Widerling noch geschundene Kreatur, er gewährt mit dem Nuancenreichtum eines Liedspezialisten Einblick in die Innenwelt eines schwurbelnden Sonderlings, der „zu viel denkt“, krude Verschwörungstheorien spinnt und sich in seine Gedankenwelt flüchtet. Dafür nimmt Gerhaher auch in Kauf, dass manch fein gesponnener Melodiefaden im Orchesterklang versinkt. Ein starker Gegenpart ist Sean Panikkars zum Polizisten degradierter Tambourmajor: Seine kraftvolle Tenorstimme strömt mühelos und textverständlich. Ähnlich kraftvoll ist Anja Kampes dramatisch-schillernder Sopran. Ihre Marie ist kein Opfer der Verhältnisse, sondern eine selbstbewusste
In Wien entfaltet sich Alban Bergs Klangidiom
und pragmatische Frau. Als sie mit dem Polizisten am Würstlstand anbandelt, erscheint das als Folge von Wozzecks emotionalen und finanziellen Defiziten. Jörg Schneider als Hauptmann und Dmitry Belosselskiy als Doktor, der buchstäblich Wozzecks Innerstes nach außen trägt, sind plastisch geformte Charaktere fernab jeder Karikatur.
Dennoch stößt Simon Stone, dessen detailscharfer Realismus in seinen Überführungen von Sprechtheaterklassikern in die Gegenwart so gut funktioniert, in seinen Opernarbeiten mitunter an Grenzen. Auch in der kunstvollen Ästhetik und bühnentechnischen Virtuosität des „Wozzeck“bleiben uns die Figuren und ihre Schicksale fremd. Die Stimmen in seinem Kopf treiben Wozzeck zum Äußersten, der Mord an Marie samt eigenem Abgang wird banal wie im Sonntagabendkrimi abgewickelt.
Wie fesselnd und empathisch das hochaktuelle Thema Femizid erzählt werden kann, bewies Amélie Niermeyer 2012 am Salzburger Landestheater. Die Regisseurin konstruierte ein albtraumhaftes Kammerspiel rund um Maries Sohn – die Vaterschaft ist nicht geklärt –, der in jeder Szene präsent ist und das Geschehen bis hin zu Wozzecks Mord an seiner Mutter miterlebt. An der Staatsoper bleibt das Packende der Musik vorbehalten.