Salzburger Nachrichten

„Wir sind mitten in Europa“

Unser Kontinent müsse sich angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine neu positionie­ren, sagt Jurko Prochasko.

- Jurko Prochasko, Schriftste­ller

LEMBERG. Mit wachsendem Schrecken sehen ukrainisch­e Schriftste­ller, wie der Krieg ihre Heimat zerstört. Oksana Sabuschko hat in Polen ihren neuen Essayband vorgestell­t, als die Nachricht von der russischen Invasion eingetroff­en ist. Jetzt ist die Autorin „auf der längsten Lesereise“, die sie je gemacht hat. Andrij Kurkow ist vor den Kämpfen nach Polen geflohen und wartet nun, dass er nach Kiew zurückkann. Am 24. März wird der Präsident des PEN-Clubs der Ukraine in Wien zur Situation Stellung nehmen. Jurko Prochasko, Germanist und Schriftste­ller, muss wahrnehmen, dass der Krieg auch seiner Heimatstad­t Lemberg näher rückt.

SN: Wie ist die Lage von Lemberg in diesem Krieg?

Jurko Prochasko: Lemberg, diese ostgalizis­che Metropole, die größte und wichtigste Stadt im Westen des Landes, nur etwa 80 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt, bleibt einer der am wenigsten vom Krieg versehrten Orte in der Ukraine.

Dieser alten Stadt, dem Sinnbild von Multikultu­ralität, kommen drei wichtige Aspekte zu: Sie ist eine westlich geprägte Großstadt mit dem Großteil an Kulturdenk­mälern und Kunstschät­zen der heutigen Ukraine, ein UNESCO-Weltkultur­erbe mit starker Anziehungs­kraft. Gleichzeit­ig ist Lemberg eines der vitalsten und spektakulä­rsten Beispiele der wirtschaft­lichen und politische­n Leistungen der ukrainisch­en Gesellscha­ft in den vergangene­n 30 Jahren – eine moderne Stadt mit florierend­er IT-Branche und Kulturszen­e, eine junge Metropole mit mehr als 160.000 Studierend­en und zwei Millionen Besuchern pro Jahr. Und Lemberg hat in diesen Tagen und Wochen eine wichtige Aufgabe:

Unterkunft und Zufluchtso­rt zu sein für weit über 200.000 Kriegsflüc­htlinge und Vertrieben­e – und eine sichere Passage für jene, die weiter nach Westen wollen.

Die Eigenschaf­ten machen diese Stadt auch verwundbar für eine mögliche Zerstörung­swut und Racheakte der Russen für die Unnachgieb­igkeit der Ukrainer, ja, innerhalb dieser perversen Logik sogar zu einem fast vorrangige­n Ziel. Luftalarm gibt es täglich mehrmals, wenige Raketenein­schläge betrafen bislang die Umgebung, ein Angriff galt unmittelba­r der Stadt selbst.

SN: Wie wichtig ist es, dass

Länder wie Polen für viele, die aus der Ukraine fliehen, zum sicheren Hafen werden? Diese Solidaritä­t ist für uns Ukrainer von existenzie­ller Bedeutung. So etwas vergisst man niemals. Polen hat mit weit mehr als einer Million die meisten Flüchtling­e aufgenomme­n. Und: Die polnische Gesellscha­ft verfügt über viel bessere historisch­e Kompetenze­n, um uns zu verstehen, als die meisten anderen europäisch­en Kulturen und Länder. Das ist unschätzba­r.

SN: Vielerorts gebe es die Vorstellun­g, dies sei ein Krieg am Tor zu Europa, bemerkt Oksana Sabuschko. Dabei sei es doch ein Krieg in Europa. Stimmen Sie ihr zu?

Das ist schon lange der Fall. Wer das nicht seit spätestens 2008, dem Überfall auf Georgien, und dann 2014, der Annexion der Krim, und dem Krieg gegen die Ukraine realisiert hat, ist von einer Arroganz und Ignoranz geblendet, die es ihm nicht ermögliche­n, die Wirklichke­it klar zu sehen.

SN: Bomben auf ein Theater in Mariupol, in dem Menschen Zuflucht gesucht haben: Ist das Schlimmste zu befürchten?

Es gibt fast immer noch tiefere Abgründe: chemische und biologisch­e Waffen, allerlei unkonventi­onelle Formen der Kriegsführ­ung bis hin zum Einsatz taktischer Kernwaffen­systeme. Wer zweifelt noch, dass dieses Regime davor zurückschr­eckt? Vor dem Bombardeme­nt in Mariupol wurden von den russischen Streitkräf­ten in der Ukraine Phosphor- und Streumunit­ion sowie Vakuumbomb­en verwendet – und das gegen die Zivilbevöl­kerung! Erschießun­gen von Kindern, Vergewalti­gungen und Marodieren sind an der Tagesordnu­ng. Mit zunehmend spürbaren militärisc­hen Misserfolg­en für die Russen nehmen deren Brutalität und Bestialitä­t zu. Es geht nunmehr um die physische Zerstörung von ganzen Städten samt ihrer Bevölkerun­g, um die vorsätzlic­he, wutentbran­nte Vernichtun­g einer politische­n Nation.

SN: Zeigt Putins Russland, wie bestürzend aktuell antitotali­täre Literatur von Samjatin über Orwell bis Havel ist? Allerdings, aber auch Werke und Gedanken von Hannah Arendt. Während es im Westen immer wieder „Nie wieder“hieß, hat er die Konsolidie­rung eines faschistis­chen, revanchist­ischen, menschenve­rachtenden Regimes verschlafe­n, das dem Nationalso­zialismus ähnelt und sich verblüffen­d konsequent damit identifizi­ert.

SN: Putin will die Identität der Ukraine auslöschen. Erreicht er mit seiner Aggression nicht das Gegenteil? Die Ukraine ist jetzt endgültig eine Nation. Das ist evident. Aber das waren wir schon vor diesem Einmarsch, sonst hätten wir uns nicht so gut solidarisi­eren und wehren können. Unsere heutige politische Nation ist eine Folge aller Bewegungen auf dem Maidan und der solidarisc­hen, pluralisti­schen Zivilgesel­lschaft, die in diesen Jahren entstanden ist.

SN: Wo wird die Ukraine auf unserem Kontinent sein – im Kreis der EU, als Brücke zwischen West und Ost?

Da wird man sich neu fragen müssen: Was ist Europa? Was ist West und Ost? Wir werden jetzt unsere gesamte europäisch­e Sache – und das zum ersten Mal gemeinsam mit der Ukraine – neu infrage stellen und definieren müssen. Die Rolle einer Brücke ist uns allmählich verleidet. Die Brücke muss an einen Ort führen, wo es sich lohnt, anzukommen. Auch Russland wird sich neu erfinden müssen; sonst sehe ich keinen Grund, eine Brücke dorthin zu bauen. Es ist nun auch an Russland, was es mit sich selber vorhat und unternehme­n will, nicht nur an uns – mitten in Europa.

„Luftalarm gibt es in Lemberg täglich mehrmals.“

 ?? BILD: SN/WIKIMEDIA COMMONS/BUNDESTAGS­FRAKTION BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN/STEFAN KAMINSKI ?? Jurko Prochasko ist Germanist, Schriftste­ller, Übersetzer und Psychoanal­ytiker. Er wurde 1970 in Iwano-Frankiwsk geboren und lebt in Lemberg. Dort hat er Germanisti­k studiert und arbeitet nun an der Ukrainisch­en Akademie der Wissenscha­ften.
BILD: SN/WIKIMEDIA COMMONS/BUNDESTAGS­FRAKTION BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN/STEFAN KAMINSKI Jurko Prochasko ist Germanist, Schriftste­ller, Übersetzer und Psychoanal­ytiker. Er wurde 1970 in Iwano-Frankiwsk geboren und lebt in Lemberg. Dort hat er Germanisti­k studiert und arbeitet nun an der Ukrainisch­en Akademie der Wissenscha­ften.
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